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Alterung von vulnerablen Bevölkerungsgruppen

Jean-François Bickel

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Vulnerabilität hat sich zu einem Oberbegriff für ein breites Spektrum von Situationen entwickelt. Einige dieser Situationen und die davon betroffenen Menschen werden in Kategorien eingeteilt und bilden die Zielgruppen spezifischer sozialpolitischer Massnahmen: «Behinderte», «Migrantinnen und Migranten», «drogenabhängige Menschen» usw. Zu den Aspekten der Alterung, an die selten gedacht wird und die in den Medien kaum Erwähnung finden, gehört die Tatsache, dass auch diese Zielgruppen altern, was zuweilen Anlass zur Bildung neuer spezifischer Typen von öffentlichen Massnahmen bildet.

Ein erster Aspekt dieses Alterungsprozesses ist die Verlängerung der früher relativ kurzen Lebensdauer gewisser dieser Gruppen. Ein besonders gutes Beispiel für diese Entwicklung sind Menschen mit geistiger Behinderung: In der Vergangenheit verstarben sie meist früh, aber heute liegt ihre Lebenserwartung im Allgemeinen über dem AHV-Alter. Zwar bestehen signifikante Unterschiede je nach Art der Syndrome, dem Schweregrad und der allfälligen Kombination mehrerer Gebrechen, doch weicht die Lebenserwartung im Fall von leichten bis mittleren Defiziten nur noch wenig von derjenigen der Gesamtbevölkerung ab. Ein weiterer Aspekt ist die Zunahme vulnerabler Menschen, die das Rentenalter oder die Betagtheit erreichen, und ihr wachsender Anteil an der gesamten älteren Bevölkerung. Zwei Beispiele: In dreissig Jahren hat sich die ausländische Wohnbevölkerung über 65 Jahren vervierfacht, während die Zahl der über 65-Jährigen insgesamt «nur» um den Faktor eineinhalb gestiegen ist, sodass heute mehr als eine von zehn Personen in dieser Altersgruppe Ausländerin oder Ausländer ist. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Personen, die im Straf- oder Massnahmenvollzug stehen, um das Eineinhalb­fache, während sich die Zahl der Menschen über 65 Jahren, die sich in dieser Situation befinden, verfünffachte. Dieser quantitative Anstieg wird begleitet von einer zunehmenden Diversifikation: So besteht die Gruppe der älteren Migrantinnen und Migranten zunehmend aus Menschen, die nicht durch die «herkömmliche» Arbeitsmigration, sondern durch andere Kanäle (Asyl, Familiennachzug) in die Schweiz gekommen sind. Diese Menschen stammen auch zunehmend aus anderen Regionen Europas und der Welt als den traditionellen Herkunftsländern (die Nachbarländer und Süd­europa). Ihre Ankunft in der Schweiz kann erst im fortgeschrittenen Alter, teils sogar erst im Rentenalter erfolgen, was sich stark vom «traditionellen» Fall der Migrantinnen und Migranten unterscheidet, die als junge Erwachsene ins «Aufnahmeland» einreisen und dort ihren Lebensweg bis ins Alter fortsetzen.

Die Alterung vulnerabler Bevölkerungsgruppen stellt die Sozialpolitik und das Sozial­wesen vor grosse Herausforderungen. Einerseits sind die für diese Gruppen geschaffenen Instrumente und zuständigen Fachkräfte mit «Problemen» und Herausforderungen ganz neuer Art konfrontiert. So macht die Interaktion von gesundheitlichen Störungen, die auf Suchtverhalten zurückzuführen sind oder auf andere Art Vulnerabilität verursacht haben, mit neu auftretenden altersbedingten Gebrechen sowohl die Diagnose und die Pflege als auch die soziale Betreuung komplexer. Ein weiteres Beispiel ist die Pensionierung von behinderten Arbeitnehmenden, deren Auswirkungen weit über den beruflichen Bereich hinausgehen. Derartige Brüche, die eine schwere Prüfung für die betroffenen Menschen darstellen, zwingen dazu, Massnahmen und Lebensprojekte, die vorwiegend auf Integration durch Arbeit ausgerichtet sind, neu zu überdenken. Der Übergang von einem sozialen System zum anderen, zum Beispiel von der Invaliditätsversicherung zur Alters- und Hinterlassenenversicherung, wirft ebenfalls schwerwiegende und heikle Probleme auf, da Statusänderungen damit verbunden sind und die je nach System unterschiedlichen Betreuungsarten sowie Arten und Umfang von Leistungen es nicht immer und nicht automatisch ermöglichen, den bisherigen Stand aufrechtzuerhalten (beispielsweise bei Assistenzbeiträgen). Andererseits kann es sich herausstellen, dass auf die «normale» ältere Bevölkerung zugeschnittene Instrumente, Massnahmen, Verfahren und Vorgehensweisen nicht angemessen sind für die «neuen» alternden Bevölkerungsgruppen, die zumindest teilweise über spezifische Erfahrungen, Ressourcen und Bedürfnisse verfügen und Massnahmen erfordern, die diesen Besonderheiten entsprechen. Ein Beispiel hierfür sind bestimmte Personen mit Migrationshintergrund, die wegen ihres prekären Status, und/oder der erst kürzlich erfolgten Ankunft oder wegen Sprachschwierigkeiten nur beschränkt Kenntnis der «normalen» Leistungen und Rechte haben und deswegen nur schwer Zugang dazu finden.

In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl von Initiativen ins Leben gerufen, um den Herausforderungen zu begegnen, die die Alterung vulnerabler Bevölkerungsgruppen mit sich bringt. Zwei Beispiele dazu: Pflegeheime haben Verfahren für die Aufnahme und Betreuung von älteren Menschen mit Migrationshintergrund eingeführt; neue Formen der Unterbringung und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen im Ruhestand sind entstanden. Zur Bewältigung der Herausforderungen ist es aber auch notwendig, die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Sektoren im Sozial- und Gesundheitsbereich umzugestalten und abzubauen. Bisher besteht dieser Bereich weitgehend aus mehr oder weniger voneinander unabhängigen «sozialen Welten» (Anselm Strauss), die über eigene Fachleute, Institutionen, Techniken, Adressatinnen und Adressaten, Expertenwissen (einschliesslich akademischer und wissenschaftlicher Kenntnisse) sowie Lehrpläne und Ausbildungsinhalte verfügen. Vermehrt gibt es Initiativen und Projekte in dieser Richtung, die begleitet werden durch zunehmende Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Fachkräften. Dabei werden berufliche Schnittstellen geschaffen, die es ermöglichen, alternde vulnerable Bevölkerungsgruppen hinsichtlich altersbezogener Einrichtungen und Instrumente zu unterstützen und gleichzeitig die Einrichtungen in die Lage zu versetzen, die Besonderheiten der betroffenen Bevölkerungsgruppen besser zu berücksichtigen. Diese Entwicklung und die ihr zugrunde liegenden Innovationen werden weiter an Bedeutung gewinnen, was sich auch auf die Ausbildung der (zukünftigen) Fachkräfte sowie der Akteurinnen und Akteure des Sozialwesens auswirken wird.

Auf dem Niveau der Gesamtkonzeption der Sozialpolitik, sozusagen auf der Ebene ihrer Philosophie, lädt die geschilderte Dynamik zu einer zumindest partiellen Konvergenz der sozialpolitischen Teilbereiche und zur Koordinierung der Instrumente ein, die einerseits das «Alter» und andererseits die «Behinderung», die «Migration und Integration», die «Sucht» usw. betreffen. Diese Konvergenz und Koordinierung sollte unabhängig von Alter, Herkunft, Status oder Lebensweg der Adressatinnen und Adressaten ihre Gleichbehandlung entsprechend der Situation der Vulnerabilität oder der zu befriedigenden Bedürfnisse sowie die Kontinuität der Massnahmen im Zeitverlauf und bis ins hohe Alter hinein gewährleisten. Ein möglicher Ansatz könnte beispielsweise darin bestehen, die Mechanismen und Leistungen der Ergänzungsleistungen zu verallgemeinern und nicht mehr auf bestimmte Altersgruppen oder Lebenssituationen zu beschränken. Die Forderung nach Gleichheit und Kontinuität und die Instrumente, die sie wirksam werden lassen, sollten einhergehen mit der Ausarbeitung angemessener und sich laufend weiterentwickelnder Massnahmen im Einklang mit der (wachsenden) Vielfalt der Situationen und Lebenswege.

Literaturhinweise

Delporte, M. (2016). L’épreuve de la retraite en milieu protégé: les travailleurs handicapés dans la fabrique du vieillissement (thèse de doctorat). Université de Lille 3, Lille.

Hungerbühler, H. & Bisegger, C. (2012). «Und so sind wir geblieben …»: Ältere Migrantinnen und Migranten in der Schweiz. Bern: Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen und Nationales Forum Alter und Migration.

Pilgram, A. & Seifert, K. (2009). Leben mit wenig Spielraum: Altersarmut in der Schweiz. Bern: Pro Senectute.

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