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Arbeitslosenversicherung

Carola Togni

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Schutz von Arbeitnehmenden im Falle eines Arbeitsplatzverlustes wird durch das Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIG) geregelt, das 1982 erlassen und seitdem viermal grundlegend überarbeitet wurde. Das Gesetz beruht auf Prinzipien, die sich Anfang des 20. Jh. durchgesetzt haben.

Die ersten, Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. gegründeten Arbeitslosenkassen gingen im Wesentlichen auf Initiativen der entstehenden Gewerkschaften zurück, welche für eine gegenseitige bzw. genossenschaftliche Abdeckung sozialer Risiken eintraten. Diese Kassen wurden von den Gewerkschaftsführern als Propagandainstrument und Mittel zur Mitgliederbindung genutzt. Allerdings kamen die Kassen bald in finanzielle Schwierigkeiten, weshalb die Gewerkschaften staatliche Subventionen forderten. Das Bundesgesetz über die Arbeitslosenversicherung von 1924 erkannte ihnen (wie auch den Arbeitslosenkassen der öffentlichen Hand und der Arbeitgeber) Subventionen zu. Diese wurden jedoch an Bedingungen geknüpft, welche dem Interesse der Arbeitgebenden entgegen kamen, über eine stabile, bereitwillige und disziplinierte Belegschaft zu verfügen. Eine dieser Bedingungen bestand im Ausschluss von Personen, die man für ihre Arbeitslosigkeit selbst verantwortlich machte – zum Beispiel, weil sie ihre Arbeitsstelle aus freiem Willen aufgegeben hatten oder wegen Fehlverhaltens oder Pflichtversäumnissen während der Arbeit entlassen wurden. Das Gesetz von 1924 verpflichtete die Kassen aus­serdem dazu, die Verfügbarkeit und Beschäftigungsfähigkeit der Versicherten zu überprüfen. Diese Bedingungen lösten keine nennenswerte Debatte aus – insbesondere auch nicht die Voraussetzung, wonach Versicherte einer regelmässigen Erwerbstätigkeit nachgegangen sein mussten, um im Falle der Arbeitslosigkeit leistungsberechtigt zu sein, was vor allem Frauen mit unterbrochenen Berufslaufbahnen benachteiligte. Dieses erste Gesetz über die Arbeitslosenversicherung schrieb weitere Grundsätze fest, wie zum Beispiel den Umstand, dass die Arbeitslosenentschädigung nur zeitlich begrenzt ausbezahlt wird und niedriger ist als der versicherte Lohn. Dies trug dazu bei, Arbeitslosigkeit als befristete, einem Beschäftigungsverhältnis untergeordnete Situation zu definieren. Der Entschädigung Schweizer Männer wurde Vorrang eingeräumt und der Fokus insbesondere auf «Familienoberhäupter» gelegt, was das traditionelle Familienmodell untermauerte. Schliesslich einigten sich die verschiedenen beteiligten Kräfte auch auf eine fakultative, nur in geringem Masse verstaatlichte und stark dezentralisierte Versicherung.

Auf diesen Konsens ist der Erfolg des 1924 eingeführten Systems zurückzuführen, das bis Mitte der 1970er Jahre Bestand hatte. Trotz der Initiative mehrerer Kantone, die Versicherung für bestimmte Kategorien von Arbeitnehmenden obligatorisch zu erklären, verharrte der Abdeckungsgrad im europäischen Vergleich auf niedrigem Niveau: Als Mitte der 1970er Jahre die Wirtschaftskrise ausbrach, waren nur ein Fünftel der erwerbstätigen Männer und lediglich ein Zehntel der erwerbstätigen Frauen bei einer Arbeitslosenkasse versichert. In der berufstätigen Migrationsbevölkerung war der Abdeckungsgrad besonders niedrig, was vorwiegend auf die restriktiveren Aufnahmebedingungen für Personen mit Jahresaufenthaltsbewilligung und auf den Ausschluss von Personen mit Saisonnierbewilligung vom Versicherungsrecht zurückzuführen war. Die Arbeitslosenquote blieb aufgrund der geringen Verbreitung der Arbeitslosenversicherung und ihrer engen Definition sowie einer gegen die Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen gerich­teten Politik relativ niedrig. Nichtsdesto­trotz gelangte die Reform der Arbeitslosenversicherung auf die politische Tagesordnung.

1976 wurde mittels eines Bundesbeschlusses das Versicherungsobligatorium eingeführt, und 1982 folgte die Verabschiedung des AVIG. Obwohl ein Teil der Arbeitgebenden Vorbehalte gegen neue Sozialbeiträge hatte, unterstützte das Unternehmerlager die Verabschiedung des AVIG. Mit dieser Haltung wollte es die Aufrechterhaltung der sehr liberalen Arbeits­gesetze sicherstellen und vor allem den Erlass von Kündigungsschutzmassnahmen verhindern. Die bestehenden Arbeitslosenkassen wurden beibehalten, ihre Rolle beschränkt sich seither jedoch auf die Berechnung und Zahlung der Arbeitslosenentschädigungen auf Grundlage der vom AVIG definierten Kriterien. Die Kantone sind für die Kontrolle und Vermittlung von Arbeitslosen zuständig. Diese werden seit den 1990er Jahren durch die Regio­nalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) organisiert. Der Bund kommt seiner Überwachungsfunktion mittels des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) nach. Das AVIG wurde viermal revidiert (1990, 1995, 2002 und 2010). Die Änderungen betrafen im Wesentlichen die Leistungsdauer, die Bedingungen für die Gewährung der Entschädigungszahlungen, die Einführung von Kontroll- und Eingliederungsmassnahmen sowie die Höhe der Beitragszahlungen. Die Finanzierung der Versicherung über Lohnabzüge stellt eine Vergesellschaftlichung der Kosten von Arbeitslosigkeit unter den Arbeitgebenden dar. Die Umverteilungseffekte der Arbeitslosenversicherung werden indes durch die Plafonierung des beitragspflichtigen Einkommens begrenzt.

Gemäss dem AVIG haben Versicherte Anspruch auf Arbeitslosen-, Kurzarbeits- und Schlechtwetterentschädigung sowie auf Entschädigung bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (Insolvenzentschädigung). Somit werden auch Beschäftigte, die eine vorübergehende Verdienstminderung erleiden, als Arbeitslose im Sinne des AVIG erachtet. Auf stellenlose Personen, die die Voraussetzungen für den Leistungsbezug aber nicht erfüllen, trifft dies hingegen nicht zu. Selbstständigerwerbende sind von der Arbeitslosenversicherung weiterhin ausgeschlossen. Voraussetzung für den Bezug einer Arbeitslosenentschädigung ist es, einen hinreichenden Verdienstausfall erlitten zu haben, in der Schweiz wohnhaft zu sein, die obligatorische Schulzeit zurückgelegt, noch nicht das Rentenalter erreicht und in den letzten zwei Jahren während einer Mindestzahl von Monaten (zwölf im Jahr 2017) eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt zu haben («Rahmenfrist für die Beitragszeit»). «Von der Erfüllung der Beitragszeit befreit» und (in reduziertem Umfang) leistungsberechtigt sind insbesondere Personen, die eine Ausbildung abgeschlossen haben oder die wegen einer Trennung gezwungen sind, wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Die Anforderung einer gewissen Regelmässigkeit der Erwerbstätigkeit wurde zwar aufrechterhalten, durch die Einführung der «Rahmenfrist für die Beitragszeit» jedoch abgeschwächt. Somit können bis zu einem gewissen Grad auch unterbrochene Berufslaufbahnen berücksichtigt werden. Durch das AVIG hat sich der Schutz vor Arbeitslosigkeit für Teilzeitbeschäftigte, Schwangere und Frauen verbessert, welche ihre Arbeit wegen Mutterschaft unterbrochen haben. Die so genannten «atypischen» Beschäftigungsformen (Arbeit auf Abruf, intermittierende oder unregelmässige Arbeit, Beschäftigungen mit sehr kurzen Arbeitszeiten usw.), in denen Frauen überrepräsentiert sind, werden aber nach wie vor nicht oder nur zu einem geringen Masse durch die Arbeitslosenversicherung abgesichert. Die 1996 eingeführte und 2002 revidierte Gesetzesbestimmung zu den «Erziehungszeiten» erlaubt die Berücksichtigung von Phasen, in denen Versicherte ihre Berufstätigkeit zugunsten der Erziehung ihrer Kinder unterbrechen. Diese Art der Arbeit wird indes nicht mit einer Erwerbsarbeit gleichgesetzt.

Arbeitslose sind unter anderem verpflichtet, sich vermittlungsfähig und -bereit zu zeigen und der Kontrolle der RAV zu unterwerfen. Das heisst insbesondere, dass sie sich zu regelmässigen Beratungsgesprächen in der Amtsstelle einfinden, Nachweise über ihre Bemühungen bei der Arbeitssuche vorlegen und an Arbeitsmarktmassnahmen (Praktika, Kursen, Beschäftigung im Rahmen subventionierter Arbeitsstellen usw.) teilnehmen müssen. Diese Massnahmen haben sich Mitte der 1990er Jahre im Zusammenhang mit dem immer populäreren Aktivierungsgrundsatz heraus­gebildet. Ausserdem muss die arbeitslose Person jede «zumutbare Arbeit» annehmen. Unzumutbar ist eine Arbeit, die den gesamtarbeitsvertraglichen oder berufsüblichen Bedingungen nicht entspricht, «nicht angemessen auf die Fähigkeiten oder auf die bisherige Tätigkeit (…) Rücksicht nimmt» (seit 2011 gilt diese Bedingung für Personen unter 30 Jahren nicht mehr), nicht dem Alter, dem Gesundheitszustand oder den familiären Verhältnissen des/der Versicherten angemessen ist oder einen Arbeitsweg von mehr als vier Stunden am Tag notwendig macht. Arbeitslose müssen ausserdem um bis zu 30 % unter ihrem versicherten Verdienst liegende Löhne akzeptieren. Bei wiederholter Arbeitslosigkeit kann dies zu mehreren sukzessiven Lohnkürzungen führen. Die Entschädigungen werden in Prozent des versicherten Verdienstes berechnet (70 % bzw. 80 % bei unterhaltsberechtigten Kindern oder Niedriglöhnen). Die Leistungsdauer variiert je nach Alter und nach Anzahl der Beitrags­monate zwischen 200 Taggeldern (ungefähr neun Monaten) und 520 Taggeldern (rund zwei Jahren). Durch die Revision im Jahr 2010 wurde der bereits fest verankerte Versicherungsgrundsatz weiter gestärkt: Das Schutzniveau erhöht sich mit zunehmendem Alter und steigender Anzahl der Beitragsmonate. Das Recht von jungen Arbeitnehmenden und von Studierenden auf den Bezug von Arbeitslosenentschädigung wurde hingegen erneut in Frage gestellt.

Literaturhinweise

Tabin, J.-P. & Togni, C. (2013). L’assurance chômage en Suisse: une sociohistoire (1924–1982). Lausanne: Antipodes.

Togni, C. (2015). Le genre du chômage: assurance chômage et division sexuée du travail en Suisse (1924–1982). Lausanne: Antipodes.

Togni, C. (2015). Arbeit und Geschlechterordnung zur Normalisierung der Lohnarbeit in der Arbeitslosenversicherung des 20. Jahrhunderts. In B. Bernet & J. Tanner (Hrsg.), Ausser Betrieb: Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz (S. 91–108). Zürich: Limmat-Verlag.

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