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Arbeitsmarkt

Patrick Emmenegger


Erstveröffentlicht: December 2020

Am Arbeitsmarkt werden in marktgesteuerten Wirtschaftsordnungen das Arbeitsangebot und die Arbeitskräftenachfrage gehandelt. Menschen vermieten gegen ein Entgelt ihre Arbeitskraft an ArbeitgeberInnen, um in deren Auftrag produktive Tätigkeiten auszuüben. In der neoklassischen Volkswirtschaftslehre wird der Arbeitsmarkt einem Gütermarkt gleichgestellt. Folglich kann der Arbeitsmarkt durch die Variation des Lohnsatzes (dem Preis der Arbeitskraft) zu einem Ausgleich gebracht werden. Bei dem daraus resultierenden Gleichgewicht zwischen Arbeitskräftenachfrage und Arbeits­angebot besteht keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Aus der neoklassischen Perspektive wird Arbeitslosigkeit deshalb primär durch Arbeitsmarktinterventionen verursacht, welche die Variation des Lohnsatzes behindern und dadurch zu einer Lohnstarre führen. Beispielsweise können Mindestlöhne zur Folge haben, dass der Lohn oberhalb des Gleichgewichtsniveaus verharrt. In diesem Fall übersteigt das Arbeitsangebot die Arbeitskräftenachfrage. Eine geringe Arbeitslosigkeit darf nicht mit Vollbeschäftigung gleichgesetzt werden. Vollbeschäftigung bezeichnet die Erwerbstätigkeit nahezu aller Personen im Erwerbsalter in einer Volkswirtschaft. Folglich ist der Kreis nicht-erwerbstätiger Menschen grösser als die von der Arbeitslosenquote erfasste Gruppe. Beispielsweise ist es oftmals Menschen mit Betreuungsaufgaben nicht möglich, am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Diese Menschen sind folglich nicht erwerbstätig, jedoch nicht arbeitslos.

Aus einer wirtschaftssoziologischen und politisch-institutionalistischen Perspektive ist die Gleichsetzung des Arbeitsmarktes mit einem Gütermarkt problematisch, unterscheidet sich der Arbeitsmarkt doch in grundlegender Weise von einem Gütermarkt. Der deutsche Politologe Günther Schmid nennt vier Gründe: Erstens ist die im Arbeitsmarkt gehandelte Arbeitskraft zu jedem Zeitpunkt an einen Menschen gebunden, dessen Menschenwürde es zu berücksichtigen gilt. Daraus folgt eine Einschränkung des Verfügungsrechts der KäuferInnen über die erstandene Arbeitskraft. Aus dieser Besonderheit sowie aus der bestehenden Machtasymmetrie zwischen AnbieterInnen und KäuferInnen von Arbeitsleistungen wird auch das Recht abgeleitet, dass sich die AnbieterInnen von Arbeitsleistungen kollektiv organisieren und als solche den Preissetzungsmechanismus des Arbeitsmarktes beeinflussen dürfen. Zweitens werden auf einem Arbeitsmarkt nicht fertige Arbeitsleistungen gehandelt, sondern nur Potenziale solcher Leistungen. Daraus folgt, drittens, dass die Qualität der Ware «Arbeitskraft» auf dem Arbeitsmarkt einen viel entscheidenderen Einfluss hat als die Qualität der Güter auf dem Gütermarkt. Schliesslich besteht eine Besonderheit des Arbeitsmarktes darin, dass die ErbringerInnen der Arbeitsleistung gleichzeitig auch zu den KonsumentInnen der daraus resultierenden Güter gehören.

Obwohl oftmals von dem Arbeitsmarkt gesprochen wird, muss zwischen segmentierten Teilarbeitsmärkten differenziert werden, die sich bezüglich Arbeitsbedingungen, Entlohnung und Aufstiegsmöglichkeiten teilweise stark voneinander abheben. Das auf Peter B. Doeringer und Michael Piore zurückgehende Konzept des segmentierten Arbeitsmarktes betont, dass der Arbeitsmarkt in Wirklichkeit in mehrere Teilarbeitsmärkte gegliedert ist, die sich nach diversen Kriterien wie Berufen, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit unterscheiden. Die Mobilität zwischen diesen Teilarbeitsmärkten ist aufgrund von Eintrittsbarrieren gering, da der Zugang zu einem anderen Teilarbeitsmarkt Diplome, Qualifikationen oder Eigenschaften voraussetzt, über die ArbeitnehmerInnen in weniger attraktiven Teilarbeitsmärkten in der Regel nicht verfügen. Die wissenschaftliche Literatur betont eine Vielzahl von Mechanismen, welche eine Segmentation des Arbeitsmarktes zur Folge haben. Im schweizerischen Kontext ist beispielsweise die Gastarbeiterpolitik zu nennen, welche ausländische Arbeitskräfte systematisch von gewissen Tätigkeiten ausschloss und sozialpolitisch schlechter stellte. Arbeitsmarktsegmentation ist aber nicht nur die Folge gesetzgeberischer Interventionen. Auch gesellschaftliche Erwartungshaltungen und Konventionen können zu einer Segmentierung des Arbeitsmarktes führen. So ist der schweizerische Arbeitsmarkt in einen männlich dominierten Vollzeitarbeitsmarkt und einen weiblich dominierten Teilzeitarbeitsmarkt unterteilt. Da Teilzeitarbeit oftmals mit Lohneinbussen und reduzierten Karrierechancen verbunden ist, resultiert daraus ein Unterschied zwischen den Geschlechtern, der auch sozialpolitisch relevant ist.

In der neueren internationalen Literatur wird eine zunehmende Arbeitsmarktsegmentation aufgrund arbeitsrechtlicher Reformen beobachtet. Hierbei handelt es sich um Politikmassnahmen, die auf eine stärkere Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse abzielen, sich jedoch aufgrund politischen Widerstandes auf einzelne Gruppen und bestimmte Arbeitsformen beschränken. So gab es beispielsweise in den meisten Industrieländern politische Bemühungen, den Kündigungsschutz für ArbeitnehmerInnen in unbefristeten Arbeitsverhältnissen zu reduzieren, die aber oft am Widerstand gut organisierter Gewerkschaften scheiterten. Stattdessen wurden in den letzten Jahren in allen Industrieländern die Restriktionen beim Gebrauch von befristeten Arbeitsverhältnissen oder Teilzeitarbeit stark zurückgefahren. Ausserdem wurden diverse neue Arbeitsformen eingeführt, die den ArbeitnehmerInnen kaum arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Schutz bieten, ihnen aber sehr viel Flexibilität abverlangen. Diese Entwicklung, in der Literatur als Dualisierung bezeichnet, lässt sich auch in der Schweiz beobachten, obwohl der vergleichsweise schwach ausgeprägte Kündigungsschutz zur Folge hat, dass diese Dualisierung der Arbeitsverhältnisse eher unterdurchschnittlich stark ausgeprägt ist. Insgesamt war der Schweizer Arbeitsmarkt in den letzten Jahrzehnten gegensätzlichen Entwicklungen ausgesetzt. Während einzelne Bereiche teilweise stark flexibilisiert wurden (z. B. Arbeitszeit), haben die flankierenden Massnahmen zu den bilateralen Verträgen mit der EU die Rolle von Gesamtarbeitsverträgen wieder verstärkt.

Selbstverständlich führen staatliche oder gesamtarbeitsvertragliche Arbeitsmarktinterventionen nicht immer zu mehr Arbeitsmarktsegmentation. Zahlreiche Massnahmen zielen vielmehr darauf ab, strukturelle Nachteile zu beseitigen und ArbeitnehmerInnen zu unterstützen. So wurde in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten die familienergänzende Kinderbetreuung ausgebaut, um insbesondere Frauen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu vereinfachen. Auch im Bildungsbereich wurden Massnahmen getroffen, um die Arbeitsmarktfähigkeit von Menschen mit Schwierigkeiten zu erhöhen. Eine besonders wichtige Rolle spielt in diesem Kontext der ergänzende (manchmal auch «zweite») Arbeitsmarkt, welcher alle öffentlichen Massnahmen zur sozialen und beruflichen Integration unabhängig vom Status der Erwerbslosen umfasst. Der ergänzende Arbeitsmarkt beinhaltet primär öffentlich geförderte Tätigkeiten, welche jedoch den normalen Arbeitsmarkt nur ergänzen und nicht konkurrieren sollen. In der Schweiz wurden öffentliche Massnahmen zur sozialen und beruflichen Integration insbesondere als Reaktion auf die zunehmende Arbeitslosigkeit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ausgebaut. Heute fokussiert der ergänzende Arbeitsmarkt primär auf ausgesteuerte Personen, die von der Arbeitslosenversicherung keine Unterstützung mehr erhalten und deshalb auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Literaturhinweise

Doeringer, P. B. & Piore, M.J. (1971). Internal Labor Markets and Manpower Analysis. Lexington: Heath Lexington Books.

Grawehr, A. & Knöpfel, C. (2001). Ergänzender Arbeitsmarkt: Ein erfolgreiches Konzept zur sozialen und beruflichen Integration? Luzern: Caritas-Verlag.

Schmid, G. (1987). Zur politisch-institutionellen Theorie des Arbeitsmarkts: Die Rolle der Arbeitsmarktpolitik bei der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung. Politische Vierteljahresschrift, 28(2), 133–161.

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