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Armut und ältere Bevölkerung

Philippe Wanner

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

In den westlichen Gesellschaften hat die Verlängerung der Lebenszeit im Laufe des 20. Jh. zu einem rapiden Anstieg der Anzahl älterer Menschen geführt. Diese Altersgruppen zeichnen sich unter anderem durch erhöhte Fragilität und eine Beeinträchtigung der funktionellen Fähigkeiten aus. Die demografischen Veränderungen in den letzten zwei Jahrhunderten haben ausserdem zu einem Rückgang der Geburtenrate geführt. Dieser Umstand hat – zusammen mit der räumlichen Mobilität, der gestiegenen Scheidungshäufigkeit sowie dem zunehmenden Individualismus – die Solidarität innerhalb der Familien geschwächt. So kommt es, dass immer mehr Ältere am Ende ihres Lebens in einem Einzelhaushalt wohnen, wobei die Frauen hier in der Überzahl sind. Des Weiteren steigt die Zahl der Personen, die definitiv kinderlos bleiben, stetig an. Zudem wird es immer seltener, dass in unmittelbarer Nähe alleinlebender Seniorinnen und Senioren Angehörige wohnen, die praktische oder finanzielle Hilfe leisten können.

Diese Entwicklungen haben in der ersten Hälfte des 20. Jh. zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der älteren Generation geführt. Der Wandel des Arbeitsmarkts, der pensionierten Menschen die Ausübung einer bezahlten Tätigkeit erschwerte, verstärkte diesen Trend weiter. Im Übrigen wirkten sich die zunehmenden Lohn- und Gehaltsunterschiede auf die wirtschaftliche Lage bei der Pensionierung aus, was zu der Bildung von benachteiligten Bevölkerungsgruppen führte, in einem Nebeneinander mit anderen privilegierten Gruppen.

In Europa zielte die Einrichtung von Rentensystemen darauf ab, auf diese Entwicklungen zu reagieren. Diese Systeme stellen einen Ersatz für die generationsübergreifende und innerfamiliäre Solidarität dar. In der Schweiz wurde die erste Säule der Altersvorsorge 1948 eingerichtet, während die Ergänzungsleistungen erst im Jahr 1966 eingeführt wurden. Das Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge, welches die zweite Säule obligatorisch machte, stammt aus dem Jahr 1985. Daher haben vor dem Zweiten Weltkrieg geborene Menschen häufig Lücken in ihrer Altersvorsorge. Der Wirtschaftsboom nach dem Krieg kam der Erwerbsbevölkerung direkt in Form von höheren Einkommen zugute, während die Bezüge der Rentnerinnen und Rentner nur sehr langsam angepasst wurden. Aus diesen Gründen galt die Wirtschaftslage älterer Menschen bis zum Ende des 20. Jh. – im Vergleich zur Situation der erwerbstätigen Bevölkerung – als prekär. Neuere empirische Daten liegen jedoch den Schluss nahe, dass die Hypothese, wonach Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger stärker von Prekarität betroffen sind als Erwerbstätige, differenziert werden muss.

Die Messung von Armut gestaltet sich schwierig. Das Bundesamt für Statistik (BFS) definiert sie als «Unterversorgung in wichtigen Lebensbereichen (materiell, kulturell und sozial), so dass die betroffenen Personen nicht den minimalen Lebensstandard erreichen, der im Land, in dem sie leben, als annehmbar empfunden wird.» Zur Bestimmung armer Haushalte werden in der Regel zwei Ansätze verwendet. Der erste Ansatz besteht darin, das von den Haushalten in entsprechenden Befragungen angegebene Einkommen mit einem Schwellenwert zu vergleichen. Dieser kann in Form einer absoluten Zahl definiert werden. Im Allgemeinen werden die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) als derartige Schwellenwerte herangezogen (2 200 Franken pro Monat für eine erwachsene Person und 3 050 Franken für einen Zweipersonenhaushalt ohne Kinder im Jahr 2012). Aber auch die Festlegung eines relativen Schwellenwerts ist möglich. Der zweite Ansatz beruht auf der Quote der materiellen Entbehrung. Dieser Indikator gibt Auskunft über das Unvermögen der diesbezüglich befragten Personen, verschiedene Arten von Ausgaben (in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Heizung, Freizeit usw.) zu tätigen.

Unter dem Kriterium der absoluten Armut belief sich die Armutsquote in der Generation 65+ im Jahr 2012 auf 16,4 %, in der Gesamtbevölkerung hingegen auf 7,7 %. Legt man das Kriterium der relativen Armut zu Grunde (50 % des Medianwerts), beläuft sich die Quote bei Rentenbezüger und Rentenbezügerinnen auf 12,8 %. Der Anteil in der Gesamtbevölkerung liegt hingegen bei 7,2 %. Die Quote der materiellen Entbehrung ist in der Gruppe der Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger mit 2,1 % hingegen niedriger als in der Gesamtbevölkerung (3,6 %). Das heisst: Der Anteil der einkommensschwachen Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger ist zwar überdurchschnittlich hoch. Eine überdurchschnittlich hohe Quote der materiellen Entbehrung ist in dieser Gruppe indessen nicht festzustellen.

Dass auf Grundlage der finanziellen Daten bei den Rentnern und Rentnerinnen eine relativ hohe Armut gemessen wird, die subjektive Armut jedoch eher gering ist, mutet paradox an. Als eine Erklärung lassen sich die bei der Berechnung berücksichtigten Einkommensquellen anführen. Während die arbeitstätige Bevölkerung ihr Einkommen grösstenteils aus ihrer Erwerbstätigkeit bezieht, können Rentner und Rentnerinnen tendenziell auf vielfältigere finanzielle Ressourcen zurückgreifen. Hierzu zählen die Leistungen aus der Altersvorsorge, der beruflichen Vorsorge sowie in manchen Fällen das Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit im Pensionsalter sowie der Rückgriff auf Ersparnisse. So hat eine auf Steuerdaten beruhende Studie von Wanner und Gabadinho gezeigt, dass ein durchschnittliches pensioniertes Ehepaar sein Einkommen zu 10 % aus einer Erwerbstätigkeit im Pensionsalter, zu 40 % aus Rentenzahlungen der ersten Säule, zu 20 % aus Rentenzahlungen der zweiten Säule und zu 30 % aus Vermögenserträgen bestreitet. Die Vermögenserträge und der Ersparnisverzehr (einschliesslich allfälliger Kapitalleistungen der zweiten Säule) sind bei den Befragungen aber nicht berücksichtigt worden. Bezieht man diese beiden Elemente mit ein, stellt sich die finanzielle Situation der Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger im Durchschnitt besser da als die der Erwerbstätigen, wobei der Unterschied zu jungen Berufstätigen besonders gross ist.

Das Schweizer Rentensystem begünstigt die Vermögensumverteilung von wohlhabenden Menschen hin zu den mittleren Einkommen und verringert damit die Einkommensstreuung. Demnach ist die Rente aus der ersten Säule unabhängig vom Erwerbseinkommen dieselbe, und in der zweiten Säule ist der versicherte Jahreslohn bei 84 600 Franken plafoniert. Das Sozialsystem ist jedoch so ausgestaltet, dass es zu einer Prekarisierung von Personen mit unterbrochener Berufslaufbahn sowie von Menschen führt, die zeitlebens keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, da die AHV-Rente auf Grundlage der Beitragsjahre berechnet wird. Sofern die Berufslaufbahn aufgrund von Arbeitslosigkeit, Invalidität oder Erziehungszeiten unterbrochen wird, schadet dies dem Aufbau von Pensionsansprüchen aus der zweiten Säule. Liegt das Jahreseinkommen unter dem Koordinationsabzug (21 150 Franken), sind keine obligatorischen Beitragszahlungen vorgesehen. Des Weiteren sind Migrantinnen und Migranten, die erst vergleichsweise spät in den Schweizer Arbeitsmarkt eingetreten sind und nicht ihr ganzes Leben lang Beiträge gezahlt haben, ganz offensichtlich armutsgefährdet. Das gilt insbesondere dann, wenn sie aus Ländern mit einem niedrigen sozialen Absicherungsniveau stammen. Diese verschiedenen Faktoren führen dazu, dass sich die im Ruhestand befindlichen Bevölkerungsteile in ganz unterschiedlichen finanziellen Situationen befinden und dass die Heterogenität zunimmt. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das System der ersten Säule – insbesondere durch die Ergänzungsleistungen – auf die Existenzsicherung einer jeden Person abzielt. Die Ergänzungsleistungen werden aber nicht immer in Anspruch genommen, die Nichtbezugsquote ist hoch.

Alles in allem wird das Schweizer System seiner Aufgabe gerecht, Rentner und Rentnerinnen vor einer ausgeprägten Prekarität zu schützen. Allerdings hängen die Einkommen der Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger eng mit ihrer Berufslaufbahn zusammen. Die aktuell unter 80-jährigen Rentner und Rentnerinnen, die in den «30 glorreichen Jahren» gearbeitet, ein intelligentes Konsum- und Sparverhalten an den Tag gelegt und von der beruflichen Vorsorge profitiert haben, sind bessergestellt als Personen im Alter von über 80 Jahren. Die künftigen Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger, die in wechselhafteren wirtschaftlichen Zeiten gelebt haben, blicken tendenziell auf mehr Unterbrechungen in ihrer Berufslaufbahn zurück und sind mitunter verschuldet. Ihr Risiko ist somit grösser, nach der Pensionierung in eine prekäre Situation zu geraten. Zudem tragen Migrantinnen und Migranten, die in der zweiten Lebenshälfte in der Schweiz tätig geworden sind, sowie die Personen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – für mehrere Jahre vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, am Ende ihres Lebens ein hohes Prekaritätsrisiko.

Literaturhinweise

Guggisberg, M. & Häni, S. (2014). Armut im Alter. Neuenburg: Bundesamt für Statistik.

Leu, R. E., Burri, S. & Priester, T. (1997). Lebensqualität und Armut in der Schweiz. Bern: Haupt.

Wanner, P. & Gabadinho, A. (2008). La situation économique des actifs et des retraités. Berne: Office fédéral des assurances sociales.

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