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Assistenzbeitrag (selbstbestimmtes Leben mit persönlicher Assistenz)

Simone Leuenberger


Erstveröffentlicht: December 2020

Assistenz, häufig mit dem voranstehenden Adjektiv «persönliche» oder «selbstbestimmte» gebraucht, bezeichnet diejenigen Hilfeleistungen, über die Menschen mit Behinderungen selbst bestimmen können. Das heisst, Menschen mit Behinderungen bestimmen selbst, wer ihnen wann, was, wo, wie und wie lange hilft. Sie werden dadurch zu handelnden Personen, die Verantwortung für und Kontrolle über ihr Leben übernehmen. Menschen mit Behinderungen brauchen Assistenz für all das, was sie wegen ihrer Behinderung nicht selbst tun können. Das kann Assistenz sein im Haushalt, bei der Körperpflege, in der Freizeit, bei der Arbeit, bei der Aus- und Weiterbildung oder bei der Kinderbetreuung. Assistenz kann aus Anleiten, Ausführen oder Überwachen bestehen. Sie gleicht die Behinderung soweit wie möglich aus und ist für alle Menschen mit Behinderungen unabhängig ihrer Behinderungsart denkbar.

Assistenz unterscheidet sich von fremdbestimmter Hilfe in herkömmlichen Betreuungsformen, bei der nicht die Betroffenen bestimmen, welches ihre Bedürfnisse sind und wie sie befriedigt werden können, sondern weitgehend die Betreuenden oder Pflegekräfte.

Damit man von persönlicher Assistenz sprechen kann, müssen Personen mit Assistenzbedarf über zentrale Kompetenzen verfügen, die im Sinne von Befugnissen auch delegiert werden können, so zum Beispiel an eine Bezugsperson innerhalb der Familie oder an eine Vertrauensperson innerhalb des Assistenzteams. Dazu gehören: 1. Organisationskompetenz: Die Assistenznehmenden planen die Einsätze; 2. Anleitungskompetenz: Sie schreiben die Tätigkeiten der Assistenzleistenden selbst vor und leiten die Ausführenden an; 3. Personalkompetenz: Sie stellen Assistenzleistende selbst an und lösen bei Bedarf auch Arbeits- und Auftragsverhältnisse auf; 4. Finanzkompetenz: Sie verfügen über genügend finanzielle Mittel und rechnen mit den Assistenzleistenden selbstständig ab.

Das System der persönlichen Assistenz ist eng verknüpft mit der Forderung nach selbstbestimmtem Leben. Inspiriert vom 1970 in den USA gegründeten Independent Living Movement fasste die Bewegung zuerst in Deutschland Fuss, später mit dem 1996 in Zürich eröffneten «Zentrum für Selbstbestimmtes Leben», auch in der Schweiz. Selbstbestimmtes Leben bedeutet nicht, von anderen Menschen unabhängig zu sein, sondern das Recht auf Entscheidungsfreiheit und die Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Das ist für viele Menschen mit Behinderungen nur möglich mit persönlicher Assistenz.

Um das Jahr 2000 führte Pro Infirmis im Kanton Waadt und in Zürich erste Projekte für ein selbstbestimmtes Leben mit persönlicher Assistenz durch. Die neue Art der Behindertenbetreuung wurde von der Fachwelt anfänglich mit Skepsis betrachtet, war man sich doch gewohnt, dass Menschen mit Behinderungen bedürftige, bittstellende Wesen sind. Nun traten sie selbstbewusst als Arbeitgebende auf. 2006 startete das Bundesamt für Sozialversicherungen nach vorgängig langwierigen Auseinandersetzungen im Parlament den «Pilotversuch Assistenzbudget». Auf den 1. Januar 2012 wurde die Leistung im Rahmen der Gesetzes­revision 6a der Invalidenversicherung (IV) unter dem Namen Assistenzbeitrag in abgespeckter Form eingeführt.

Im europäischen Umfeld lief die Entwicklung ähnlich: über private und/oder staatliche Pilotprojekte kam man schlussendlich zur Einführung. Nur begann alles viel früher. Schweden führte z. B. ab 1987 ein Pilotprojekt durch. 1994 trat dann die schwedische Assistenz­reform in Kraft. Im europäischen Vergleich ist festzuhalten, dass grosse Unterschiede bestehen. So gibt es Assistenzsysteme mit und ohne Einkommens- bzw. Vermögensanrechnung, mit vorgeschriebenem maximalem oder minimalem Assistenzbedarf, mit Globalbudget, regio­nale Begrenzungen, ganz unterschiedliche Stundenhöchstansätze und erlaubte Leistungserbringer.

Der Assistenzbeitrag ist diejenige Leistung der IV, mit der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz ihre Assistenz finanzieren, sofern sie zuhause leben und Anspruch auf eine Hilf­losenentschädigung der IV haben. Bei Erreichen des AHV-Alters gilt die sogenannte Besitzstandswahrung. Die Leistung ist in der ganzen Schweiz gleich. Einkommen und Vermögen der Leistungsbeziehenden werden bei der Berechnung nicht einbezogen, im Unterschied zu den Ergänzungsleistungen oder der Sozialhilfe. Der Assistenzbeitrag wird nicht automatisch ausbezahlt, sondern muss beantragt werden. Wer Assistenz beantragt, muss zudem handlungsfähig sein. Minderjährige oder Personen mit einer umfassenden Beistandschaft oder einer Mitwirkungsbeistandschaft müssen zusätzliche Anforderungen erfüllen (entweder Besuch einer Regelschule/-ausbildung, Arbeit im ersten Arbeitsmarkt, eigenen Haushalt führen oder Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag der IV haben). Mit dem Assistenzbeitrag soll die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gefördert werden.

Mittels einer Bedarfsabklärung der IV wird der Bedarf an persönlicher Assistenz in Stunden berechnet. Abgestuft nach Höhe der Hilflosenentschädigung sieht die IV Höchstlimiten vor. So kann jemand mit einer Hilflosenentschädigung schweren Grades für die Bereiche alltägliche Lebensverrichtungen, Haushalt, Freizeit pro Tag höchstens acht Stunden Assistenz erhalten. Wer Hilfe in der Nacht braucht, bekommt zusätzlich eine Pauschale. Mit dem Assistenzbeitrag dürfen nur Assistenzgebende bezahlt werden, die von den Assistenznehmenden mittels Arbeitsvertrag angestellt werden (Arbeitgebermodell). Für Arbeiten, die im Auftragsverhältnis geleistet werden, darf diese IV-Leistung deshalb nicht gebraucht werden. Zudem dürfen keine Verwandten in direkter Linie und keine (Ehe-)Partner/Partnerinnen angestellt werden.

Der Assistenzbeitrag leistet einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz im April 2014 als 144. Staat ratifizierte. Sie sieht in Artikel 19 «Unabhängige Lebensführung und Teilhabe an der Gemeinschaft» vor, das heisst, dass Menschen mit Behinderungen gleiche Wahlmöglichkeiten für das Leben in der Gemeinschaft und die gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme haben wie andere Menschen. Es geht also nicht um ein Sonderrecht, sondern um Gleichberechtigung. Wer diese Rechte wahrnehmen und ausüben möchte, aber aufgrund seiner/ihrer Behinderung im Alltag Hilfe benötigt, ist auf Assistenz angewiesen. Sie ist nicht nur die Grundlage für ein Leben zuhause in den eigenen vier Wänden, sondern schafft auch die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nachzugehen. Der Assistenzbeitrag fördert somit die Integration in die Arbeitswelt.

In Zukunft wird es darum gehen, den Assistenzbeitrag noch mehr auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen auszurichten, damit die Forderungen der UNO-Behindertenrechtskonvention vollständig umgesetzt werden können. Gegenwärtig werden faktisch viele Menschen mit Behinderungen vom Bezug eines Assistenzbeitrags und damit von der Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens mit persönlicher Assistenz ausgeschlossen, denn die administrativen Hürden sind hoch (komplexes Anmelde- und Abrechnungsverfahren, Beschränkung auf das Arbeitgebermodell). Zudem können aufgrund der Höchst­limiten und der starren Bedarfsabklärung, die wenig Rücksicht nehmen auf behinderungsbedingte Besonderheiten, nicht alle Menschen mit Behinderungen ihren gesamten Assistenzbedarf über den Assistenzbeitrag decken. Sie müssen deshalb mit viel Aufwand Zusatzfinanzierungen erschliessen, etwa über Ergänzungsleistungen. Auch die freie Wahl der Wohn- und Arbeitssituation bleibt eingeschränkt. Beispielsweise wird der Assistenzbeitrag beim Besuch einer geschützten Werkstätte um die Hälfte gekürzt. Eine weitere Frage, die auf politischer Ebene zu klären ist, betrifft Angehörige, deren Assistenzbeitrag vorderhand nicht entschädigt wird.

Literaturhinweise

European Network on Independent Living (2014). Factsheet: Personal Assistance. http://enil.eu/wp-content/uploads/2016/06/FAQ_Personal_Assistance.pdf

Huainigg, F.-J. (2008). Auch Schildkröten brauchen Flügel: Ein herausforderndes Leben. Wien: Ueberreuter.

Pro Infirmis in Zusammenarbeit mit Inclusion Handicap (Hrsg.). Der Ratgeber für Rechtsfragen: Behindert – was tun? Assistenz. https://www.proinfirmis.ch/

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