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Asyl

Christin Achermann


Erstveröffentlicht: December 2020

«Asylon» (altgr.) bezeichnete in der Antike einen heiligen Ort, wo Verfolgte Schutz fanden. Heute bezieht sich «Asyl» meist auf den staatlichen Schutz ausländischer Personen, welche ihre persönliche Verfolgung glaubhaft machen können. Eine Person, die in einem anderen Staat um Asyl ersucht, wird als Asylsuchende/r oder Asylbewerber/in bezeichnet. Während des Asylverfahrens entscheiden die Behörden darüber, ob die Person als Flüchtling anerkannt wird. Gemäss dem ersten Artikel der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, ratifiziert durch die Schweiz 1955, ist jede Person ein Flüchtling, die «aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Natio­nalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich ausserhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will».

Seit Jahrhunderten suchen Verfolgte Zuflucht in der Schweiz (z. B. Hugenotten im 17. Jh., Revolutionäre aus europäischen Staaten und Soldaten der Bourbaki-Armee im 19. Jh.). Zwar hat die Schweiz seit jeher auch Flüchtlinge als unerwünscht ausgeschlossen, doch die Vorstellung einer «humanitären Tradition» ist bis heute eine zentrale Komponente der nationalen Identität. Seit 1925 ist der Bund zuständig für die Asylgewährung. Lange Zeit wurde diese durch den Artikel 21 des Bundesgesetzes über den Aufenthalt und die Niederlassung der Ausländer geregelt. Als während des Zweiten Weltkriegs Hunderttausende bedrohte Menschen in die Schweiz fliehen wollten, führte eine enge Auslegung des massgeblichen Kriteriums der «politischen Verfolgung» dazu, dass Tausende von Jüdinnen und Juden an der Grenze abgewiesen wurden, da die Verfolgung «nur aus Rassengründen» nicht anerkannt wurde. Die schweizerische Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten kontrovers diskutiert.

Im Kontext des Kalten Kriegs und wirtschaftlichen Aufschwungs herrschte eine grosse Offenheit gegenüber den oft gut gebildeten Flüchtlingen aus kommunistischen Staaten. Vermittelt durch das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) wurden sie zahlreich und unbürokratisch aufgenommen (1956 ungarische, 1963 tibetische, 1968 tschechoslowakische Personen). Ab den 1970er Jahren bis 1995 wurden sogenannte Kontingentsflüchtlinge aus verschiedenen Konfliktregionen (z. B. Uganda, Vietnam, Bosnien-Herzegowina) in der Schweiz aufgenommen. 1973 zeigten sich die Schweizer Behörden gegenüber chilenischen Flüchtlingen erstmals weniger offen. Dies hing vermutlich damit zusammen, dass sie nicht vor einem kommunistischen Regime flohen. Als Gegenreaktion mobilisierte sich die Zivilgesellschaft für eine grosszügigere Unterstützung.

1981 trat das erste schweizerische Asylgesetz in Kraft. Dieses fasste die bisherige Praxis zusammen und stützte sich auf die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention. Es war von Offenheit gegenüber Schutz suchenden Personen geprägt und gewährte den Behörden einen grossen Ermessensspielraum. Zugleich begann eine Bürokratisierung, Institutionalisierung und Verrechtlichung des Asylverfahrens. 1986 wurde der erste Delegierte für das Flüchtlingswesen eingesetzt, der 1989 durch das Bundesamt für Flüchtlinge abgelöst und 2015 zum Staatssekretariat für Migration (SEM) überführt wurde. Nach Inkrafttreten des Asylgesetzes setzte eine bis heute ungebrochene Entwicklung ein: eine Politisierung des Asylthemas und eine quasi-permanente Revidierung des Gesetzes, oftmals im Dringlichkeitsverfahren. Unter dem Einfluss eines in ganz Westeuropa zu beobachtenden Anstiegs der Asylgesuchszahlen ab den 1980er Jahren wurde das Asylgesetz zusehends verschärft. Die Angst vor einer zu grossen Zahl von Asylsuchenden, welche die «Aufnahmefähigkeit der Schweiz» bedrohe, ist dabei eine Konstante. Weitere wiederkehrende Themen sind die Beschleunigung der Asylverfahren, die Verringerung der Attraktivität der Schweiz als Zielland, die nichtvollzogenen Wegweisungen von abgewiesenen Asylsuchenden sowie der rasche Ausschluss von Personen ohne Aussicht auf Asyl aus dem Verfahren.

Die Zahl der Asylgesuche schwankt abhängig von der Häufigkeit kriegerischer Konflikte und von deren geografischer Nähe zur Schweiz. Zwischen 1981 und 1991 verzehnfachte sich die Zahl der Asylgesuche auf knapp 42 000. Die bis 2016 höchste Zahl in der Schweiz wurde 1999 als Folge des Kosovokriegs mit 47 500 Gesuchen erreicht. Nach einem starken Rückgang am Anfang des 21. Jh. ist die Zahl der Asylgesuche im Kontext der grossen Fluchtbewegungen nach Europa Mitte des zweiten Jahrzehnts vorübergehend angestiegen (39 500 im Jahr 2015). 2017 hat sie sich bereits wieder halbiert (18 088).

Seit Ende 2012 können Asylgesuche nur noch in der Schweiz und nicht mehr bei einer Schweizer Vertretung im Ausland gestellt werden. Das SEM ist zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens, das in zwei Phasen unterteilt ist. Die Vorbereitungsphase findet im Empfangs- und Verfahrenszentrum statt und dient der Registrierung der Person sowie einer ersten summarischen Befragung zu Identität und Fluchtgründen. Ist die Schweiz nicht zuständig für die Behandlung des Gesuchs oder wird darauf aus anderen Gründen nicht eingetreten, fällen die Behörden den entsprechenden Entscheid. Andernfalls beginnt die Untersuchungsphase, die im Zentrum (max. Aufenthaltsdauer 90 Tage) oder in einem Kanton stattfindet. Die Zuweisung der Asylsuchenden an die Kantone erfolgt nach einem auf der Bevölkerungszahl basierenden Verteilungsschlüssel. In der Untersuchungsphase werden die Asylsuchenden zu ihren Asylgründen angehört. Für unbegleitete minderjährige Asylsuchende bestehen besondere Regeln. Kann die asylsuchende Person glaubhaft machen, dass sie ein Flüchtling ist, erhält sie einen positiven Asylentscheid (Aufenthaltsausweis B). Wird ihr Gesuch abgelehnt, kann sie beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde einlegen. Nach einem rechtskräftigen negativen Entscheid muss die Person die Schweiz innerhalb einer Ausreisefrist verlassen. Wer kein Asyl erhält, dessen Wegweisung jedoch unmöglich, unzumutbar oder unzulässig ist, wird vorläufig aufgenommen (F-Ausweis).

Das schweizerische Asylsystem entspricht weitgehend jenem anderer europäischer Staaten. Die Ähnlichkeiten sind auf den übergeordneten Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention und auf Nachahmungseffekte zurückzuführen. So hatte die Schweiz 1990 als erstes Land das heute weit verbreitete Konzept der «sicheren Herkunftsstaaten» eingeführt. Bei Personen aus solchen Staaten wird davon ausgegangen, dass sie nicht verfolgt werden. Infolge des Dublin- und Schengen-Assoziierungsabkommens setzt die Schweiz seit Dezember 2008 die Dublin-Verordnungen um, welche die Zuständigkeit der Asylgesuche zwischen den Mitgliedstaaten regelt. Die Schweiz ist aber kein vollständiger Teil des Asylsystems der EU und somit nicht den entsprechenden Richtlinien unterstellt. Die Kompetenzen im schweizerischen Asylsystem sind föderal verteilt zwischen Bund (Verfahren) und Kantonen (Betreuung, Vollzug der Wegweisung). Die Asylsuchenden sind so je nach Aufenthaltskanton mit verschieden ausgestalteten Strukturen, Unterstützungsleistungen und politischen Priori­tä­ten konfrontiert. Die direktdemokratischen Instrumente der Schweiz führen zudem zu einer spezifischen Politisierung des Asyl­themas.

Die aktuellen asylpolitischen Debatten gleichen jenen der Vergangenheit. Einer Beschleunigung der Asylverfahren stimmte die Stimmbevölkerung im Juni 2016 mit der Annahme der «Neustrukturierung des Asylwesens» zu, welche im Frühjahr 2019 in Kraft getreten ist. Künftig sollen 60 % der Asylgesuche in Zentren des Bundes abschliessend behandelt werden. Dort sollen alle beteiligten Akteure direkt vor Ort sein, wovon eine Beschleunigung der Verfahren erwartet wird. Innerhalb von 140 Tagen soll ein rechtskräftiger Entscheid vorliegen und gegebenenfalls die Wegweisung vollzogen sein. Eine kostenlose Rechtsvertretung soll die Rechte der Asylsuchenden im beschleunigten Verfahren gewährleisten. Die übrigen 40 % der Asylsuchenden, deren Gesuche vertiefte Abklärungen erfordern, werden den Kantonen zugeteilt. Durch «Ausreisezentren» sollen mehr und raschere Wegweisungen von abgelehnten Asylsuchenden vollzogen werden. Wie in der Vergangenheit stehen die aktuellen asylpolitischen Debatten im Spannungsfeld zwischen den menschen- und völkerrechtlichen Prinzipien der Schutzgewährung einerseits und dem Streben nach souveräner Kontrolle des Zugangs zum nationalstaatlichen Territorium andererseits.

Literaturhinweise

Schweizerische Flüchtlingshilfe (Hrsg.) (2015). Handbuch zum Asyl- und Wegweisungsverfahren (2., vollst. überarb. Aufl.). Bern: Haupt.

Staatssekretariat für Migration (Hrsg.) (1. März 2019). Handbuch Asyl und Rückkehr. Bern: [Online-Publikation].

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