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Ausländerstatus und Sozialhilfe

Claudio Bolzman, Jean-Pierre Tabin

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Sozialhilfe war schon immer in erster Linie jenen Menschen vorbehalten, die eine Gesellschaft als «die Ihren» betrachtet. Daher verwundert es kaum, dass die Frage des Empfängerkreises stets im Mittelpunkt der Diskussionen rund um die Sozialhilfe gestanden hat – und das seit den Anfängen der Eidgenossenschaft. Früher wurden die «Fremden» aus anderen Gemeinden oder Kantonen von der Sozialhilfe ausgeschlossen. Heute sind es vor allem Personen ausländischer Nationalität, die diese Exklusion erfahren.

Das Verhältnis zwischen der Sozialhilfe und dem Status als Ausländerin bzw. Ausländer kann zunächst einmal paradox anmuten. Denn ein Teil der Sozialgesetzgebung zielt eigentlich darauf ab, jede bedürftige Person zu schützen. So heisst es in Artikel 12 der Bundesverfassung von 1999: «Wer in Not gerät […], hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» Um diese Verfassungsbestimmung zu erfüllen, wurde die öffentliche Fürsorge bzw. Sozialhilfe eingerichtet. Doch anders, als man es erwarten könnte, haben nicht alle Personen Zugang zur ordentlichen Sozialhilfe, da dieses Recht an die Aufenthaltsbewilligung geknüpft ist. Das heisst, dass vor der Fürsorgebehörde zunächst einmal die zuständigen Migrationsbehörden tätig werden. Die Allgemeingültigkeit des Rechts auf Sozialhilfe ist also sehr relativ, sind doch bestimmte Personen davon ausgeschlossen. Das Paradox besteht indes nur dem Schein nach: Wenngleich die sozialen Bürgerrechte ein Privileg der Einheimischen sind, werden sie mit gewissen Einschränkungen auch Menschen gewährt, die die Nationalität ihres Wohnsitzstaats nicht besitzen. Die Schweiz hat – wie viele andere Staaten – bestimmte Voraussetzungen für den Zugang zu Leistungen des Sozialstaats definiert, wie zum Beispiel die Notwendigkeit eines Wohnsitzes im Hoheitsgebiet, die Dauer des Aufenthalts oder die Art der Aufenthaltsbewilligung.

Drei Kategorien von in der Schweiz lebenden Personen sind von der ordentlichen Sozialhilfe ausgeschlossen. Dabei handelt es sich erstens um Personen ausländischer Nationalität ohne Arbeitsbewilligung. Sie haben lediglich Anspruch auf Nothilfe, die meist in Form von Gutscheinen oder Sachleistungen (z. B. Unterkunft und Verpflegung in Gemeinschaftseinrichtungen) gewährt wird. Dies gilt auch für abgewiesene Asylsuchende, sofern sie bezüglich der Rückkehr in ihr Herkunftsland mit den Behörden kooperieren. Zweitens sind Personen im Asylprozess betroffen. Sie erhalten von den Kantonen eine spezifische Sozialhilfe, die meist ungefähr halb so hoch ist wie die Sozialhilfe für die Wohnbevölkerung. Und drittens sind in diesem Zusammenhang die Migrantinnen und Migranten zu nennen, die zur Arbeitssuche in die Schweiz kommen. Dies betrifft auch Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Bei ihnen entscheidet der Status als unselbstständig erwerbstätige Person über ein allfälliges Recht auf Sozialhilfe. Ein Arbeitsplatzverlust in der Schweiz kann zum Verlust dieses Status und somit des Anspruchs auf Sozialhilfe führen. So hat das Bundesgericht entschieden, dass Angehörige von EU- und EFTA-Staaten ihren Status als unselbstständig erwerbstätige Personen in folgenden Fällen verlieren: wenn sie freiwillig arbeitslos geworden sind oder wenn für den Fall, dass sie unfreiwillig arbeitslos geworden sind, aufgrund ihres Verhaltens feststeht, dass keinerlei ernsthafte Aussichten mehr darauf bestehen, dass sie in absehbarer Zeit eine andere Arbeit finden werden oder wenn ihr Verhalten gesamthaft als «rechtsmissbräuchlich» bezeichnet werden muss. Der Wortlaut ist so vage gehalten, dass ganz unterschiedliche Interpretationen möglich sind. Die Frage, ob Personen ausländischer Herkunft Anspruch auf Sozialhilfe haben, steht in den europäischen Staaten im Übrigen immer wieder auf der Tagesordnung. Dabei geht der Trend aktuell in Richtung einer restriktiven Handhabung, wie der Ausgang der 2016 durchgeführten Brexit-Abstimmung im Vereinigten Königreich zeigt.

Die übrigen in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländer haben Zugang zur ordentlichen Sozialhilfe. Nehmen sie diese in Anspruch, verlieren sie aber womöglich ihr Aufenthalts- bzw. Niederlassungsrecht in der Schweiz, weil die schweizerische Ausländergesetzgebung die Nützlichkeit von Migration in den Vordergrund stellt. Der Aufenthalt von Personen ausländischer Nationalität wird nur akzeptiert, wenn er die Gesellschaft möglichst wenig kostet. Wenn eine Ausländerin oder ein Ausländer auf öffentliche Fürsorge angewiesen ist, betrachtet das Gesetz dies als eine Tatsache, die dieselben Folgen haben kann wie eine Straftat. Denn in beiden Fällen ist die Ausweisung als Sanktion vorgesehen.

Artikel 62 Abs. 2 lit. e des (nicht für Angehörige von EU- und EFTA-Staaten geltenden) Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer, das 2008 in Kraft getreten ist, sieht vor, dass die Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B) einer Ausländerin bzw. eines Ausländers widerrufen werden kann, wenn sie bzw. er «oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist». Personen mit einer Niederlassungsbewilligung (Ausweis C), die also im Prinzip ein langfristiges Aufenthaltsrecht besitzen, kann dieses Recht entzogen werden, wenn «die Ausländerin oder der Ausländer oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist» (Art. 63 Abs. 1 lit. c). Hiervon ausgenommen sind nur Ausländerinnen und Ausländer, die eine Niederlassungsbewilligung besitzen und sich seit mehr als 15 Jahren in der Schweiz aufhalten (Art. 63 Abs. 2). In seiner Botschaft zur Änderung des Ausländergesetzes vom 4. März 2016 hat der Bundesrat jedoch eine Verschärfung dieser Bestimmungen und insbesondere die Aufhebung der 15-Jahre-Regelung vorgesehen.

Zur Bedeutung der Formulierung «dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen» hat das Bundesgericht verschiedene Entscheide getroffen. Laut dieser Rechtsprechung, welche die Association Romande et Tessinoise des Institutions d’Action Sociale (ARTIAS) in einem Dossier zusammengestellt hat, sind die Bedingungen hierfür in folgenden Fällen erfüllt: eine fünfköpfige Familie bezieht über einen Zeitraum von rund elf Jahren 210 000 Franken; eine Einzelperson bezieht über neun Jahre 96 000 Franken oder über zwölf Jahre 143 361 Franken; ein Paar bezieht innerhalb von fünfeinhalb Jahren 80 000 Franken oder innerhalb von zwei Jahren 50 000 Franken Sozialhilfe. Gemäss den Weisungen des Staatssekretariats für Migration vom Oktober 2013 ist von einer dauerhaften und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit auszugehen, wenn eine Ausländerin oder ein Ausländer über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren mehr als 80 000 Franken an Sozialhilfe erhalten hat.

Es existiert keine Statistik des Bundes über die Umsetzung dieser Artikel, die in die kantonale Zuständigkeit fällt. Ausländerinnen und Ausländer mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung bis zu einem Jahr werden in der Regel nicht ausgewiesen. Ihre Bewilligung wird jedoch nicht verlängert. Dieser Artikel wird auch angewandt, um die Nichtumwandlung der Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B) in eine Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) und die Beschränkung des Familiennachzugs zu begründen. Manchmal verwehren die Behörden Ausländerinnen und Ausländern wegen einer möglichen drohenden Fürsorgeabhängigkeit das Recht auf ein Zusammenleben in der Familie. Ausserdem sehen Migrantinnen und Migranten mitunter davon ab, ihr Recht auf Sozialhilfe geltend zu machen, um ihre Aufenthaltsbewilligung nicht zu verlieren. Um weiterhin in der Schweiz bleiben zu können, müssen Ausländerinnen und Ausländer somit in manchen Fällen auf einen Teil ihrer Rechte verzichten.

Weil die soziale Absicherung ein Privileg der Staatsangehörigen ist, werden die von der Gesetzgebung als Ausländerinnen und Ausländer definierten Personen häufig – und insbesondere in politischen Kampagnen – verdächtigt, Sozialleistungen unberechtigt oder exzessiv in Anspruch nehmen zu wollen. Die Debatte und die einschlägigen Bestimmungen zeigen auf, dass ihr von vornherein als vorläufig erachtetes und an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht jederzeit widerrufen werden kann. Ihr Status bringt es mit sich, dass Ausländerinnen und Ausländer die Rechtmässigkeit ihres Aufenthalts häufig nachweisen müssen. Und das Ausländerrecht erinnert sie regelmässig daran, welchen Preis sie dafür zahlen müssen, dass sie oder ihre Eltern aus dem Ausland in die Schweiz eingewandert sind.

Literaturhinweise

Bolzman, C., Poncioni-Derigo, R., Rodari, S. & Tabin, J.-P. (2002). La Précarité contagieuse. Les conséquences de l’aide sociale sur le statut de séjour des personnes de nationalité étrangère: l’exemple des cantons de Genève et Vaud. Lausanne/Genève: Editions IES/Editions EESP.

Conrad, C. & von Mandach, L. (Hrsg.) (2008). Auf der Kippe: Integration und Ausschluss in der Sozialhilfe und Sozialpolitik. Zürich: Seismo.

Fauchère, Y. (2016). Aide sociale et fin du droit au séjour. Yverdon: ARTIAS.

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