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Berufliche Vorsorge

Anne-Sylvie Dupont

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die berufliche Vorsorge bildet den beruflichen Zweig des schweizerischen Pensionssystems und stellt dessen zweite Säule dar. Sie ergänzt das durch die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und die Invalidenversicherung (IV) beim Eintritt von Alters-, Todes- oder Invaliditätsfällen garantierte Ersatzeinkommen. Die berufliche Vorsorge soll es den versicherten Personen ermöglichen, den bisherigen Lebensstandard auch nach Eintreten eines Versicherungsfalls beizubehalten. Während die erste Säule auf dem Umlageverfahren basiert, liegt der beruflichen Vorsorge das Kapitalisierungssystem zugrunde.

Erste embryonale Formen der beruflichen Vorsorge entstanden punktuell in der Schweiz bereits im 19. Jh. vor allem auf Initiative öffentlicher Körperschaften, die um den sozialen Schutz ihres Personals besorgt waren. Anfang der 1970er Jahre wurde die berufliche Vorsorge gestärkt, als das Dreisäulenmodell – einschliess­lich des Aufbaus einer obligatorischen zweiten Säule – in einer Volksabstimmung gegenüber der von linken Parteien propagierten Volkspension vorgezogen wurde. Am 1. Januar 1985 trat das Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 25. Juni 1982 (BVG) in Kraft, wodurch die berufliche Vorsorge zur obligatorischen Sozialversicherung wurde.

Die obligatorische berufliche Vorsorge schützt Arbeitnehmende, die einen im Gesetz festgelegten Mindestlohn bei einem einzigen Arbeitgebenden erzielen. Selbstständig Erwerbende sowie Angestellte, die bei mehreren Arbeitgebenden geringere Lohnbeträge beziehen, aber insgesamt den Minimallohn erreichen, können sich freiwillig versichern lassen. Personen ohne Erwerbstätigkeit haben keinen Zugang zur beruflichen Vorsorge.

Im Rahmen der obligatorischen beruflichen Vorsorge wird nur ein Teil des AHV-Lohns, der koordinierte Lohn, berücksichtigt. Der koordinierte Lohn ergibt sich, indem vom AHV-Lohn der Koordinationsabzug subtrahiert wird, der 7/8 der maximalen jährlichen AHV-Rente beträgt. Dieser Abzug soll die Koordination zwischen der ersten und der zweiten Säule sicherstellen. Ursprünglich entsprach der Koordinationsabzug der ganzen maximalen AHV-Jahresrente, doch wurde er anlässlich der ersten Revision des BVG, die am 1. Januar 2005 in Kraft trat, zugunsten einer besseren Altersvorsorge der Personen mit niedrigem Einkommen gesenkt. Dass der Koordinationsabzug im BVG unabhängig vom Beschäftigungsgrad festgelegt wird, hat zur Folge, dass Teilzeitbeschäftigte mit einem geringeren Einkommen benachteiligt sind. Trotz diverser politischer Interventionen hat es das Parlament bisher abgelehnt, diese Problematik gesetzlich zu regeln. Einzelne Pensionskassen, hauptsächlich öffentliche Kassen, verfügen über Reglemente, die den Koordinationsabzug an den Beschäftigungsgrad anpassen.

Die obligatorische berufliche Vorsorge zahlt ihre Leistungen in Form von Renten, in Ausnahmefällen in Form eines Kapitalbezugs, aus. Die Altersrente entspricht einem Prozentsatz des im Laufe der beruflichen Laufbahn angesammelten Alterskapitals (Umwandlungssatz). Der Umwandlungssatz hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter dem Pensionierungsalter und der Lebenserwartung der Rentnerinnen und Rentner. Die Zunahme der Lebenserwartung ist einer der Gründe, warum der Umwandlungssatz tendenziell sinkt. Im Rahmen der obligatorischen Vorsorge setzt das BVG einen Mindestumwandlungssatz fest, der für Frauen und Männer gleich ist und gegenwärtig 6,8 % beträgt.

Den Arbeitgebenden steht frei, ihre Angestellten in Vorsorgeeinrichtungen zu versichern, die eine sogenannte überobligatorische (oder weitergehende) Vorsorge anbieten und deren Versicherungsbedingungen über die im BVG vorgeschriebenen Mindestanforderungen hinausgehen. So ist es beispielsweise möglich, einen grösseren Teil des Lohns zu versichern, eine vorzeitige Pensionierung anzubieten oder im Todesfall andere Personen zu begünstigen. Dass in der Praxis ein Viertel der Versicherten nur dem minimalen Schutz nach dem BVG unterliegt, während die übrigen von einer vorteilhafteren Versicherung profitieren, bedeutet eine ungleiche Behandlung der Versicherten.

Sowohl in der obligatorischen als auch in der überobligatorischen beruflichen Vorsorge müssen die Beiträge zu gleichen Teilen von den Versicherten und von den Arbeitgebenden geleistet werden, wobei es den Arbeitgebenden freisteht, eine für die Angestellten vorteilhaftere Lösung anzubieten.

Die berufliche Vorsorge wird dezentral durch etwas mehr als 1500 Vorsorgeeinrichtungen verwaltet, die im Fall von öffentlichen Körperschaften meist dem öffentlichen Recht unterstellt sind oder andernfalls privatrechtlich organisiert sind; im letzteren Fall obligatorisch in Form einer Stiftung oder seltener einer Genossenschaft.

Eine schweizerische Besonderheit stellt die paritätische Führung der beruflichen Vorsorgeeinrichtungen dar: Der Vorstand der Einrichtung muss aus gleich vielen Mitgliedern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite zusammengesetzt sein. Sind in einem Unternehmen verschiedene Kategorien von Arbeitnehmenden tätig, so müssen grundsätzlich alle Kategorien vertreten sein. Beschäftigt ein Unternehmen beispielsweise gewerkschaftlich organisierte und nicht organisierte Arbeitnehmende, widerspricht es dem Grundsatz der Parität, wenn einzig gewerkschaftlich organisierte Personen im Vorstand Einsitz nehmen.

Seit dem 1. Januar 1995 gilt in Ergänzung zum BVG das Bundesgesetz vom 17. Dezember 1993 über die Freizügigkeit (FZG). Dieses Gesetz stellt sicher, dass die Vorsorge während der gesamten beruflichen Laufbahn der Versicherten fortgeführt wird. Beim Austritt aus einer Pensionskasse ohne Eintreten eines Versicherungsfalls ist die versicherte Person berechtigt, das bisher angesammelte Kapital (Austrittsleistung) mitzunehmen, das in der Regel an die neue Pensionskasse überwiesen wird. Dadurch wird verhindert, dass der einmalige oder wiederholte Stellenwechsel den Aufbau der Vorsorge beeinträchtigt.

Da die Finanzierung der beruflichen Vorsorge stark von den Erträgen der angelegten Vermögen abhängt, bedeutet ein langfristiger Renditerückgang an den Finanzmärkten eine Gefahr für die Auszahlung der vereinbarten Leistungen. Insbesondere seit der globalen Finanzkrise von 2007/2008 ist deshalb immer wieder die Rede von einer Senkung der Renten, um ihre Nachhaltigkeit sicherzustellen. Die erste Revision des BVG, die 2005 in Kraft trat, hatte bereits eine Senkung des Umwandlungssatzes und damit der Renten zur Folge. Eine weitere Anpassung wurde hingegen 2010 vom Schweizer Volk klar abgelehnt. Erneut gestellt wurde die Frage der Senkung des Umwandlungssatzes im Rahmen der von den Bundesbehörden 2017 vorgeschlagenen generellen Rentenreform (Altersvorsorge 2020), die ebenfalls in der Volksabstimmung scheiterte. Die Debatte ist nicht abgeschlossen, denn trotz starken Widerstands in der Bevölkerung gegen eine Kürzung der Renten der zweiten Säule herrscht die Ansicht vor, dass die Finanzierung dieses Teils der sozialen Sicherheit langfristig nicht mehr gewährleistet ist.

In Diskussion ist auch die bestehende Möglichkeit, dass Versicherte zum Zeitpunkt der Pensionierung ihr im Verlauf der Erwerbstätigkeit erspartes Vermögen ganz oder teilweise in Form von Kapital beziehen können. Es besteht die Gefahr, dass Personen, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, ihr Kapital rasch ausgeben, sodass sie anschliessend nicht mehr über die zur Bestreitung des eigenen Unterhalts nötigen Mittel verfügen und stattdessen auf die Unterstützung öffentlicher Stellen angewiesen sind. In der Kritik steht auch die Möglichkeit, dass Versicherte ihr Vorsorgeguthaben in bar beziehen, falls sie die Schweiz verlassen, um sich in einem Land ausserhalb der Europäischen Union und der EFTA niederzulassen, oder falls sie sich für die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit entscheiden. Im zweiten Fall ist besonders problematisch, dass nicht geprüft wird, ob das Vorsorgeguthaben tatsächlich zur Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit verwendet wird. Zudem führt das Scheitern der neuen Tätigkeit dazu, dass die Vorsorgebemühungen zunichtegemacht werden und die Betroffenen meist ebenfalls auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind.

Grundsätzlich nicht infrage gestellt wird hingegen die Möglichkeit, einen Teil des Vorsorgeguthabens für den Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum zu verwenden. Das Risiko, dass diese Vermögenswerte verloren gehen, ist geringer, weil sie in Immobilien investiert sind und bei deren Verkauf an die Vorsorgeeinrichtung zurückgezahlt werden müssen.

Literaturhinweise

Geiser, T., Gächter, T. & Schneider, J.-A. (Hrsg.) (2018). BVG und FZG: Bundesgesetze über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sowie über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (2. Aufl.), Bern: Stämpfli.

Oberson, F. (2013). La prévoyance professionnelle: principe et fondements. Genève: Schulthess.

Stauffer, H.-U. (2012). Berufliche Vorsorge (2. Aufl.). Zürich: Schulthess.

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