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Berufsbildung für Menschen mit Behinderung

Susanne Aeschbach


Erstveröffentlicht: December 2020

Berufliche Bildung ist eine zentrale Voraussetzung für die Teilhabe am Arbeitsleben. Einen wichtigen Beitrag leistet hier das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), indem elementare Rahmenbedingungen definiert werden, die es Menschen mit Behinderung erleichtern sollen, sich aus- und fortzubilden. Die Invalidenversicherung (IV) wiederum ist der massgebliche Akteur, wenn es um die Finanzierung der beruflichen Bildung für Menschen mit Behinderung geht. Der weitaus grösste Teil beruflicher Massnahmen der Invalidenversicherung betrifft die Ausbildungsgefässe der beruflichen Grundbildung. Die IV leistet jedoch auch im Tertiärbereich einen wichtigen Beitrag.

Ein Meilenstein in der beruflichen Bildung von Menschen mit Behinderung ist in der Einführung des Bundesgesetzes der Invalidenversicherung 1959 zu verorten, indem damit die finanzielle Beteiligung der IV an der beruflichen Bildung gesetzlich verankert wurde. Damit wurde ein wichtiger Grundstein gelegt, indem Menschen mit Behinderung auf Gesetzesebene die Bildungsfähigkeit zugesprochen wurde, was früher, v. a. bei kognitiver und schwerer psychischer Beeinträchtigung, häufig nicht der Fall war. Im Rahmen der beruflichen Grundbildung wurden Menschen mit Behinderung traditionell in spezialisierten Ausbildungsstätten des ergänzenden (zweiten) Arbeitsmarktes ausgebildet, deren Ursprung auf die Zwischenkriegszeit zurückgeht. Mit dem Wandel von einer Rentenanstalt hin zu einer Eingliederungs­agentur fordert die Invalidenversicherung zunehmend, dass Menschen mit Behinderung näher am allgemeinen (ersten) Arbeitsmarkt ausgebildet werden, um die Chancen für die berufliche Integration am Ende der beruflichen Bildung zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund stieg gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen die Anzahl der Bezügerinnen und Bezüger beruflicher Massnahmen für die erstmalige berufliche Ausbildung kontinuierlich an (2010: 8 719 Personen, 2015: 11 058 Personen). Die damit verbundene stärkere Arbeitsmarktorientierung und die für die Schweiz prägende duale Ausgestaltung der beruflichen Bildung, d. h. die Kombination von schulischer und betrieblicher Bildung in Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarkts, fördern die berufliche Teilhabe. Der Paradigmenwechsel in der Behindertenarbeit, der in der UN-Behindertenrechtskonvention zum Ausdruck kommt und der Wunsch von Menschen mit Behinderung, am allgemeinen Arbeitsmarkt teilzuhaben, führen dazu, dass Supported Education, d. h. die begleitete berufliche Bildung basierend auf dem Handlungskonzept Supported Employment, vermehrt zur Anwendung kommt.

Im europäischen Vergleich lässt sich festhalten, dass die Schweiz einen gut ausgebauten, starken institutionellen Bereich hat. Die Institutionen, welche traditionell für die berufliche Bildung von Menschen mit Behinderung zuständig waren, spielen auch heute noch eine wichtige Rolle. Diese orientieren sich zunehmend am allgemeinen Arbeitsmarkt. Das strukturell ausdifferenzierte und zugleich stark selektive Schweizer Bildungswesen, welches an den verschiedenen Schwellen zu Benachteiligungen führt, erschwert allerdings die inklusive Berufsbildung. Hingegen bietet die duale Berufsbildung eine gute Ausgangslage für die berufliche Integration– auch für Menschen mit Behinderung.

Eine Änderung, welche Menschen mit Behinderung wesentlich tangiert, hängt mit der Revision des Berufsbildungsgesetzes, das seit 2004 in Kraft ist, zusammen: Im Rahmen dieser Revision wurden die sogenannt kantonalen Anlehren zugunsten des neu geschaffenen Ausbildungsgefässes der zweijährigen beruflichen Grundbildungen mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) abgeschafft. Diese neuen Ausbildungen sind für einen Teil von Jugendlichen eine Errungenschaft, da sie jenen, die den Anforderungen an eine berufliche Bildung mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (noch) nicht genügen, eine gute berufliche Grundbildung und einen standardisierten Abschluss ermöglichen. Hingegen scheitern schwächere Jugendliche an den deutlich höheren Hürden der EBA-Ausbildungen im Vergleich zu den früheren kantonalen Anlehren. Der nationale Branchenverband von Institutionen für Menschen mit Behinderung, INSOS Schweiz, hat mit dem 2007 lancierten Ausbildungsgefäss der Praktischen Ausbildung (PrA), welches sich an Jugendliche mit Beeinträchtigung richtet, diese Lücke teilweise geschlossen. Dieses flexible Ausbildungsgefäss eignet sich gut für eine heterogene Zielgruppe. Im Rahmen des Projektes «Individueller Kompetenznachweis für Jugendliche ohne Berufsabschluss» wurden erstmals Kompetenznachweise entwickelt, die zu einer Bescheinigung der Kompetenzen von PrA-AbsolventInnen sowie für Jugendlichen, welche das EBA-Qualifikationsverfahren nicht bestanden haben, führen. Damit soll der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden. Gleichzeitig ist es eine Form der Anerkennung auf Ebene der Branchenverbände und der Arbeitgebenden. Auf Bundesebene hingegen fehlt die Anerkennung der Praktischen Ausbildung nach INSOS.

Eine grosse Errungenschaft ist der Nach­teils­ausgleich, der im BehiG verankert ist und auf allen Ausbildungsstufen zum Tragen kommt. Er ermöglicht mittels gezielter, individueller Massnahmen während der beruflichen Bildung oder im Rahmen der Qualifizierung einen bestehenden Nachteil aufgrund einer Beeinträchtigung aufzuheben. Weitere wichtige Instrumente für Menschen mit Behinderung sind Stütz- und Förderkurse an den Berufsfachschulen, die fachkundige individuelle Begleitung im Rahmen der EBA-Ausbildung sowie die Möglichkeit, eine berufliche Bildung bei Bedarf zu verlängern.

Mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenverteilung zwischen Bund und den Kantonen (NFA) wechselte 2008 die Zuständigkeit u. a. von Sonderschulen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung vom Bundesamt für Sozialversicherungen zu den kantonalen Verwaltungen. Damit wurden neue Schnittstellen geschaffen, welche am Übergang Schule-Berufsbildung Jugendliche mit Behinderung und deren Eltern vor neue Herausforderungen stellt. Besonders gefordert im Übergang Schule-Berufsbildung sind Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen, welche die Regelschule besuchten. Der Übergang in eine berufliche Bildung dieser neuen Zielgruppe ist sehr komplex, da viele verschiedene Stellen involviert sind und die Lehrpersonen vor der Herausforderung stehen, die Berufsfindung auf die besonderen Bedürfnisse dieser Jugendlichen anzupassen. Problematisch wird es insbesondere dann, wenn Jugendliche Unterstützungsbedarf haben, jedoch kein Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung besteht. Im Rahmen der 7. Revision der IV werden Massnahmen geprüft, die bereits während der obligatorischen Schulzeit zum Tragen kommen sollen, um den Übergang Schule-Berufsbildung zu optimieren.

Seitens der Behindertenverbände wird kritisiert, dass Jugendliche mit grossem Unterstützungsbedarf gänzlich von der beruflichen Bildung ausgeschlossen werden. Auch wenn die grosse Mehrheit der Jugendlichen Zugang zur Berufsbildung haben, so erhöhen die Entwicklungen in der beruflichen Bildung aber auch auf Ebene des Arbeitsmarktes insbesondere den Druck auf schwächere Jugendliche. Berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung bedingt den Zugang zu beruflicher Bildung. Entsprechend dem Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe, der «Behinderung» nicht als individuelles Merkmal einer Person zuschreibt, sondern behindernde Kontextfaktoren berücksichtigt, müssten Unterstützungsmassnahmen weniger fokussiert auf der Ebene der Person ansetzen, sondern den gesamten Kontext adäquat einbeziehen. Wichtige Faktoren, die zum nachhaltigen Gelingen beruflicher Teilhabe beitragen, sind u. a. eine auf die Person zugeschnittene, langfristige Unterstützung, Anpassungen aufseiten des Ausbildungs- respektive Arbeitsplatzes, Begleitung der Arbeitgebenden und ein unterstützendes Umfeld.

Literaturhinweise

Egger, T., Stutz, H., Jäggi, J., Bannwart, L., Oesch, T., Naguib, T. & Pärli, K. (2015). Evaluation des Bundesgesetzes über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung – BehiG. Bern: Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS.

Schweizerisches Dienstleistungszentrum Berufsbildung, Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung (Hrsg.) (2013). Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung in der Berufsbildung: Bericht. Bern: SDBB Verlag.

Sempert, W. & Kammermann, M. (2010). Evaluation Pilotprojekt Praktische Ausbildung (PrA) INSOS (BSV Forschungsbericht Nr. 7/10). Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

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