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Berufsbildung

Thomas Meyer


Erstveröffentlicht: December 2020

In der Schweiz durchlaufen rund zwei Drittel eines Altersjahrgangs eine zwei- bis vierjährige berufliche Grundbildung. Die häufigste Form dieses Ausbildungstyps ist die «duale» drei- bis vierjährige Berufslehre, die mit einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ) abgeschlossen wird. Eine zweijährige Kurzform der beruflichen Grundbildung mündet in den Erwerb eines Eidgenössischen Berufsattests (EBA). Via die Berufsmaturität erhalten EFZ-Absolventinnen und –Absolventen Zugang zu Ausbildungen an den Fachhochschulen. Daneben stehen ihnen zahlreiche Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich der höheren Berufsbildung offen.

Die Berufsbildung ist in der Schweiz seit 1933 auf Bundesebene im Berufsbildungsgesetz geregelt, welches bis heute dreimal revidiert wurde (1963, 1978 und 2004). Während der Bund für die strategische Steuerung und Entwicklung der Berufsbildung zuständig ist, sind die Kantone und die so genannten Organisationen der Arbeit (OdA: Berufs-, Branchen-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände) für Vollzug und Umsetzung verantwortlich. Die Ausbildungsinhalte werden von den OdAs definiert und von den Bundesbehörden in Form von lehrberufsspezifischen Reglementen bzw. Verordnungen ratifiziert.

Gegenwärtig werden berufliche Grundbildungen in rund 230 Lehrberufen angeboten, die drei bis vier Jahre dauern und mit einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis abgeschlossen werden. Darüber hinaus bestehen zweijährige berufliche Grundbildungen in gut 50 Lehrberufen, die mit einem EBA abgeschlossen werden. Die häufigste Ausbildungsform ist die so genannte «duale» Lehre. Als dual wird sie bezeichnet, weil sie mehrheitlich an zwei Lernorten stattfindet: dem Lehrbetrieb einerseits (praktische Ausbildung) und der Berufsfachschule andererseits (schulische Ausbildung). Ergänzt werden diese zwei Lernorte durch überbetriebliche Kurse (dritter Lernort). Die Lehrlinge verbringen durchschnittlich drei bis vier Tage pro Woche im Lehrbetrieb und einen bis zwei Tage in der Berufsfachschule. Die Anzahl berufsfachschulischer Lektionen variiert je nach Lehrberuf stark zwischen rund 350 und über 800 pro Jahr. Die Lernenden schliessen üblicherweise einen Lehrvertrag mit dem Lehrbetrieb ab und erhalten einen Lohn («Lehrlingslohn»), der je nach Lehrberuf und Ausbildungsjahr zwischen 300 und 2 300 Franken monatlich variiert. Rund zehn Prozent der Lernenden durchlaufen die berufliche Grundbildung in vollzeitschulischen Angeboten, in der französischen und italienischen Schweiz häufiger als in der Deutschschweiz.

Nach dem Erwerb eines EFZ treten die Absolventinnen und Absolventen wahlweise direkt in den Arbeitsmarkt über oder bilden sich auf Tertiärstufe weiter. Der Zugang zum (Fach-)Hochschulbereich eröffnet sich über die Berufsmaturität, die entweder parallel zur beruflichen Grundbildung (BM 1) oder im Anschluss an diese erworben wird (BM 2). Daneben stehen EFZ-Absolventinnen und –Absolventen die Angebote der höheren Berufsbildung offen. Die verbreitetste Form der höheren Berufsbildung sind die eidgenössische Fachausweise (Berufsprüfungen), von denen jährlich rund 14 000 erworben werden. In der Regel werden sie nach einigen Jahren Berufspraxis zur Vertiefung des Fachwissens im Berufsfeld sowie als Vorbereitung für Führungsaufgaben erworben. Weitere Abschlüsse der höheren Berufsbildung sind die Eidgenössischen Diplome sowie die Höheren Fachschuldiplome.

Die für die berufliche Grundbildung aufgewendeten Kosten belaufen sich auf schätzungsweise jährlich gut sechs Milliarden Franken oder rund 25 000 Franken je lernende Person und Jahr. Etwas mehr als die Hälfte der Ausgaben entfallen auf die öffentliche Hand (hauptsächlich Kosten der Berufsfachschulen), auf rund 44 % Anteil werden die betrieblichen Ausbildungskosten geschätzt. Innerhalb der betrieblichen Ausbildungskosten entfallen Schätzungen zufolge rund die Hälfte der Ausgaben auf die Lehrlingslöhne. Laut Kosten-Nutzen-Studien ziehen die meisten ausbildenden Betriebe insgesamt einen Netto-Nutzen aus der Lehrlingsausbildung. Nur knapp ein Fünftel aller Betriebe in der Schweiz bilden jedoch Lehrlinge aus.

Die Lehrlingsselektion an der Schwelle zwischen den Sekundarstufen I und II ist ein komplexer Prozess, bei dem neben der oben erwähnten Lehrstellenmarkt-Situation eine Vielzahl von Selektionsfaktoren zusammenwirken. Die berufliche Grundbildung ist ein ausserordent­lich heterogenes Ganzes, das in sich stark berufs- und branchenspezifisch segmentiert und hierarchisiert ist. Schulisch und berufspraktisch anspruchsvollen Berufslehren mit guten Anschluss- und Aufstiegsmöglichkeiten auf der Tertiärstufe bzw. auf dem Arbeitsmarkt stehen solche mit eher bescheidenem Anforderungsniveau und geringem Weiterentwicklungspotenzial gegenüber. Das Anspruchsniveau des auf Sekundarstufe I besuchten Schultyps (Grund- vs. erweiterte Anforderungen) ist unabhängig von der erbrachten schulischen Leistung einer der bestimmenden Faktoren dafür, welches berufliche Anspruchsniveau den Lehrstellen-Bewerberinnen und Bewerbern offen steht. Neben dem Leistungsausweis spielen bei der Lehrlingsselektion auch Faktoren wie Arbeitsmarkttugenden (Pünktlichkeit, Auftreten, «Betragens»-Merkmale) sowie sozio­demografische Merkmale wie sozialer Status, Geschlecht, Migrationshintergrund und Alter eine gewichtige Rolle.

Rund ein Viertel der Anwärterinnen und Anwärter auf eine berufliche Grundbildung absolvieren nach der obligatorischen Schule zunächst eine so genannte Zwischenlösung, mehrheitlich ein schulisches Brückenangebot von einem Jahr Dauer. Wie aus der Längsschnittstudie TREE hervorgeht, erhöht diese Form von Diskontinuität am Übergang in die Sekundarstufe II im Vergleich zu einem «Direkt­einstieg» das Risiko, ohne nachobligatorischen Ausbildungsabschluss zu bleiben.

Im bildungspolitischen Diskurs zur dualen Berufsbildung werden unter anderem immer wieder deren Arbeitsmarkt- und Praxisnähe sowie deren Integrationsfähigkeit für schulisch Schwache als Erfolgsfaktoren hervorgehoben. In der Tat ist die Arbeitsmarktabsorption der Berufsbildungsabsolventinnen und absolventen im internationalen Vergleich – gemessen etwa an der Erwerbs- und der Arbeitslosenquote – beneidenswert hoch. Die oft geäusserte bildungspolitische These, wonach dieser Erfolg ein unmittelbares, direktes Ergebnis der dualen Berufsbildung sei, ist jedoch in dieser Verkürzung nicht haltbar. Zum einen ist die ausserordentlich günstige Arbeitsmarktlage in der Schweiz auch auf wirtschaftsstrukturelle Faktoren zurückzuführen, welche nichts mit der Berufsbildung zu tun haben. Zum anderen gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die erfolgreiche Arbeitsmarktintegration aus der Berufsbildung heraus auch massgeblich mit einer hohen berufsfeld- und branchenspezifischen Segmentation des Arbeitsmarktes zusammenhängt.

Ein dauerhaftes Strukturproblem der dualen Berufsbildung ist die Marktförmigkeit und damit die Volatilität des Ausbildungsangebots. Der starke Einfluss von konjunkturellen Faktoren und der Ausbildungsbereitschaft einer relativ kleinen Minderheit der in der Schweiz ansässigen Unternehmen führt dazu, dass die individuellen Chancen des Zugangs zu beruflicher Grundbildung stark von den Wechselfällen des Wirtschaftsgeschehens sowie der Demografie abhängt. Insbesondere in Zeiten der Angebotsknappheit erhöht dies das Risiko eines misslungenen Einstiegs in bzw. vorzeitigen Ausstiegs aus dem (Berufs)Bildungssystem, insbesondere für sozial benachteiligte oder schulisch schwächere Jugendliche.

Ein weiteres Problem ist die ausserordentlich ausgeprägte Genderisierung der Berufswahl. Gemäss Bundesamt für Statistik sind in sieben von acht reglementierten Lehrberufen junge Männer bzw. junge Frauen zu weniger als einem Drittel vertreten, und in rund einem Viertel aller Lehrberufe bleiben Frauen bzw. Männer ganz unter sich.

Im obersten beruflichen Qualifikationssegment besteht schliesslich seit längerer Zeit ein starkes Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Vor dem Hintergrund der stark zunehmenden Bildungsbeteiligung auf der Tertiärstufe bleibt insbesondere der berufsbildungsbasierte Zugang zum (Fach-)Hochschulbereich über die Berufsmaturität stark eingeschränkt. Die Berufmaturitätsquote liegt bei rund 15 % und nur rund die Hälfte der Berufsmaturitäts-Absolventinnen bzw. -Absolventen erwerben schliesslich einen Hochschulabschluss. Gleichzeitig rekrutiert der schweizerische Arbeitsmarkt jährlich Zehntausende von Arbeitskräften mit Hochschul­abschluss aus dem Ausland.

Literaturhinweise

Maurer, M. & Gonon, P. (Hrsg.) (2013). Herausforderungen für die Berufsbildung in der Schweiz: Bestandesaufnahme und Perspektiven. Bern: hep.

Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (Hrsg.) (2017). Berufsbildung in der Schweiz. Fakten und Zahlen. Bern: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation.

TREE-Studie. Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben. http://www.tree.unibe.ch/ergebnisse/publikationen/

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