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Delinquenz von Frauen

Véronique Jaquier

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Delinquenz von Frauen umfasst das gesamte Spektrum möglicher Straftaten. Allerdings sind Straftäterinnen seltener und begehen häufiger als Männer geringfügige Delikte. Verhaftungen, Verurteilungen, Gefängnisstrafen: Bei sämtlichen Statistiken sind die Frauen in der Minderheit. Im europäischen Durchschnitt machen sie 15–20 % der in den Kriminalstatistiken erfassten Personen und 4–6 % aller Gefängnis­insassen aus. Aber werden Frauen auch gleich behandelt wie Männer?

Hinterhältig oder anstiftend agierend: in der Vergangenheit hiess es, Frauen würden nur heimlich Delikte begehen oder Männer dazu anstiften; vor allem aber hiess es, dass sie in den seltenen Fällen, in denen sie gefasst werden konnten, von Polizei und Justiz begünstigt wurden. So postulierte bereits in den 1950er Jahren die These des justiziellen Paternalismus (oder Ritterlichkeitsthese), dass Behörden Frauen im Vergleich zu Männern bevorzugt behandeln. Die aufgeführten Gründe sind vielfältig: Begünstigung, gesellschaftliche Voreingenommenheit, Vorurteile, kognitive Verzerrung, aber auch ein gewisser Pragmatismus. Geht es darum, Kinder von ihren Eltern zu trennen, würden Richter eher zögern, Mütter mit Strafen zu belegen, als dies bei Vätern der Fall wäre. Hingegen kann sich Mutterschaft im Fall einer Anklage auch nachteilig auswirken, weil sie das Bild einer «schlechten Mutter» erweckt. Entsprechend besagt die Theorie vom Teufelsweib, dass Frauen strenger als Männer behandelt werden, da sie einerseits für ihre Straftat sanktioniert werden, andererseits aber auch für den Rollenbruch. Dieses Phänomen wird als «doppelte Devianz» bezeichnet: mit richterlicher Milde können Straftäterinnen nur rechnen, wenn sie sich entsprechend ihrer Geschlechterrolle verhalten.

Die Forschung hat sich mittlerweile der geschlechtsspezifischen Analyse justizieller Entscheidungen angenommen und Verhaftungen, Anklageerhebungen, Freilassungen auf Kaution und Verurteilungen unter die Lupe genommen. Die widersprüchlichen Ergebnisse zeigen methodologische Probleme aufgrund der empirischen Berücksichtigung einer Vielzahl an Parametern, die in justizielle Entscheidungen mit einfliessen. Sie spiegeln aber auch das Prinzip der Individualisierung der Strafe wieder. Es ist in jedem Fall angezeigt, nicht nur die strafrechtliche Sozialkontrolle zu betrachten. Definiert man das Konzept der Sozialkontrolle breiter, wird Devianz bei Frauen offenbar anders sanktioniert als bei Männern – auch am Rande der strafrechtlichen Sphäre. Ob nun Weiblichkeit zu mildernden oder zu verschärfenden Umständen führt: Das Geschlecht ist im (Straf-)Justizsystem nie belanglos und es kri­stallisieren sich nach wie vor festgefahrene Vorstellungen von «Frau» und «Mann» sowie deren Wechselbeziehungen mit anderen gesellschaftlichen Hierarchien.

Diese Vorstellungen kommen auch in der historischen Entwicklung des Strafvollzugs an Frauen zum Tragen. So versuchten bürgerliche Reformkräfte straffällige Frauen durch Anerziehung christlicher Moralvorstellungen und sittsamer Haushaltsführung zu retten. Die Behörden wollten sich ausreichender Zeit für ihre Resozialisierung versichern und verurteilten sie deshalb zu unbefristeten Gefängnisstrafen, manchmal inmitten von Männern, manchmal wurden sie in unterfinanzierten Einrichtungen vergessen. Weibliche Gefangene wurden lange Zeit diskriminiert. Dies hat sich nur unwesentlich gebessert.

In rechtlicher Hinsicht gelten für Inhaftierungen gesetzliche Normen zur Wahrung der Grundrechte und internationale Abkommen betreffend Vollzug von Freiheitsstrafen wie die Empfehlungen des Europarates und die UNO-Resolutionen. Dazu gehören auch die sogenannten Bangkok-Regeln, einziges Regelwerk mit Mindestnormen für Frauen im Strafvollzug. Diese nicht bindende Resolution propagiert Unterbringungsbedingungen, mit denen den sogenannten «besonderen» Bedürfnissen von Frauen Rechnung getragen werden soll. In der Schweiz ist der Straf- und Regelvollzug durch Artikel 74–92 des Strafgesetzbuches geregelt. Das Prinzip der Individualisierung von Sanktionen lässt auch unterschiedliche Haftbedingungen zu, welche die Berücksichtigung persönlicher Eigenschaften und besonderer Bedürfnisse der Verurteilten erlaubt, die z. B. auch durch das Geschlecht bedingt sein können. Bedürfnisse, die jedoch häufig übergangen werden aufgrund der geringeren Sichtbarkeit der weiblichen Gefangenenpopulation.

Speziell geregelt ist die Unterbringung von Gefängnisinsassinnen, die schwanger sind, gerade entbunden und ein Kind haben. Ihre Betreuung hinsichtlich Gesundheitsversorgung, Hygiene und Ernährung muss von qualifiziertem Fachpersonal übernommen werden. Die internationalen Vorschriften sehen vor, dass Entbindungen in zivilen oder sonstigen Einrichtungen stattfinden müssen, in denen die erforderliche medizinische Versorgung gewährleistet ist. Bezüglich Zwangsmassnahmen sind diese Vorschriften eindeutig: Entbindungen in Fesseln sind inakzeptabel; sie sind unmenschlich und gefährlich – und dennoch gängige Praxis z. B. in den USA. Zahlreiche Länder erlauben es inhaftierten Frauen, dass sie ihre Kinder bis zu einem Alter zwischen 18 Monaten und etwa drei Jahren im Gefängnis grossziehen. In der Schweiz dürfen Kinder bis zur Einschulung bei der Mutter bleiben, in der Praxis wird dies aber meist nur bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr so gehandhabt. Ausschlaggebend ist stets das Kindeswohl. Die Lebensbedingungen des Kindes müssen seiner guten Entwicklung förderlich sein. Zudem müssen der Zugang zu hinreichender medizinischer Versorgung, regelmässige Aufenthalte ausserhalb des Gefängnisses und die Teilnahme an altersgerechten Aktivitäten gewährleistet sein. Massnahmen zur Begleitung der Inhaftierten in ihrer Mutterschaft müssen ebenfalls ergriffen werden. Die verfügbaren Arrangements für Mütter und Kinder unterscheiden sich zwischen den jeweiligen Einrichtungen allerdings erheblich.

Ebenso uneinheitlich sind die Regelungen betreffend Massnahmen zur Förderung emotionaler und familiärer Bindungen, obwohl diese ein zentraler Bestandteil des Rechts auf Privatleben und Familie sind. Zwar muss der Kontakt der Inhaftierten zu ihren Familien und vor allem zu ihren Kindern ausserhalb des Gefängnisses ermöglicht und müssen angemessene Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dennoch obliegt die Festlegung der Besuchsmodalitäten (für Besuche von regulären Besuchern, Angehörigen, Ehegatten) jeweils der Einrichtungsleitung, wodurch Ungleichbehandlung begünstigt wird.

Die Resozialisierung ist hauptsächliches Ziel der Sanktionen und wird durch ein auf Bildungs- und Qualifikationsniveau abgestimmtes Angebot verfolgt. Immerhin ist die moralische Rehabilitierung der inhaftierten Frauen nicht mehr Teil davon, aber das Angebot ist im Vergleich zu Haftanstalten für Männer noch immer relativ beschränkt. Sämtlichen Bemühungen zum Trotz sind die ergriffenen Massnahmen stark geschlechtsspezifisch und zu wenig auf den Erwerb von Kompetenzen ausgelegt, die der Wiedereingliederung in die Gesellschaft dienlich sind.

Zudem zeigen mehrere Studien, die im Vergleich zu Männern erhöhte Verletzlichkeit von Frauen im Strafvollzug und dies sowohl bezüglich des Lebensverlaufs wie auch der Haftfolgen. So weisen Frauen mehr gesundheitliche Probleme auf als männliche Gefangene, sowohl hinsichtlich körperlicher Leiden und chronischer Krankheiten als auch hinsichtlich psychiatrische Störungen und Suchterkrankungen. Angesichts ihrer Erfahrungen und Lebensumstände, die der Haftstrafe vorausgingen, haben Frauen auch spezielle Bedürfnisse, was ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft und die Verhinderung einer erneuten Straffälligkeit angeht. Therapeutische Massnahmen genügen diesen Anforderungen jedoch selten und geschlechtsspezifische Massnahmen sind trotz vielversprechender Resultate immer noch nicht sehr verbreitet. Die Gesundheitsversorgung im Gefängnis muss in sozialer und politischer Hinsicht Priorität haben; dies umso mehr als für manche Frauen die Inhaftierung den einzig möglichen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung darstellt, was die Strafvollzugsmedizin zu einem natürlichen Element der öffentlichen Gesundheit macht.

Zu oft vergessen von Gesetzgeber, sozialen und strafrechtlichen Institutionen, sind straffällige Frauen weit davon entfernt, identische Lebensverläufe aufzuweisen. So vielfältig die Bedingungen sind, die zur Straffälligkeit der Frauen geführt haben, so komplex gestaltet sich auch der Unterstützungsbedarf. Obwohl zahlreichen schweizerischen und internationalen Organisationen die Verletzlichkeit delinquenter Frauen bekannt und die Notwendigkeit einer genderspezifischen Herangehensweise unbestritten ist, zeigen sowohl die Kriminal- als auch die Sozialpolitik Mühe, die entsprechenden Schritte in die richtige Richtung zu wagen.

Literaturhinweise

Belknap, J. (2015). The invisible woman: gender, crime, and justice. Belmont: Wadsworth.

Cardi, C. (2007). Le contrôle social réservé aux femmes: entre prison, justice et travail social. Déviance et Société, 31(1), 3–23.

Jaquier, V. & Vuille, J. (2017). Les femmes et la question criminelle: délits commis, expériences de victimisation et professions judiciaires. Zurich: Seismo.

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