Wörterbuch durchsuchen

Direkte Demokratie

Isabelle Stadelmann-Steffen


Erstveröffentlicht: December 2020

Direkte Demokratie bezeichnet die unmittelbare Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger an politischen Sachentscheiden. Der aktuelle politische und wissenschaftliche Diskurs bezieht sich dabei nicht auf eine reine direkte Demokratie im Sinne eines idealtypischen Modells politischer Volksherrschaft. Direkte Demokratie wird vielmehr als ein politisches Entscheidungsverfahren betrachtet, das repräsentative Demokratie ergänzen kann. Während die Ausgestaltung direktdemokratischer Instrumente im internationalen Vergleich stark variiert, lassen sich zwei Haupttypen unterscheiden: Über Initiativen können die Bürgerinnen und Bürger selbst Gesetzes- oder Verfassungsvorschläge an die Urne bringen. Im Rahmen von Referenden hingegen entscheidet die Stimmbevölkerung über Gesetzes- und Verfassungsvorschläge von Regierung und Parlament. Direktdemokratische Instrumente lassen sich weiter danach differenzieren, ob sie top-down (von der Regierung bzw. von Gesetzes wegen, wie z. B. das obligatorische Referendum) oder aber bottom-up (d. h. durch die Bevölkerung selbst, z. B. Volksinitiative oder fakultatives Referendum) ausgelöst werden. In der Ausprägung, wie die direkte Demokratie in der Schweiz vorzufinden ist, kann sie als Schweizer Besonderheit betrachtet werden. In der Tat ist die Schweiz das einzige Land, in welchem direktdemokratische Instrumente auf nationaler Ebene eine wesentliche Rolle spielen. Die direktdemokratische Mitsprache erweist sich für die Sozial­­politik jedoch nicht nur auf nationaler Ebene (v. a. betreffend Sozialwerke oder jüngst die familienpolitische Ausrichtung), sondern auch in den Kantonen und Gemeinden (Krankenkassenverbilligungen, Kinderbetreuungsangebote, Steuern) als prägend.

Die Wirkung direktdemokratischer Instrumente auf die Sozialpolitik ist theoretisch ambivalent. Eine erste Sichtweise geht von der Annahme aus, dass – gegeben eine linkssteile Einkommensverteilung – eine Mehrheit der Bevölkerung von Umverteilung profitiert. Entscheiden deshalb die Bürgerinnen und Bürger an der Urne direkt über die Sozialpolitik, lässt sich eine im Vergleich zu reinen Repräsentativdemokratien grosszügigere und stärker redistributive Wohlfahrtsstaatspolitik erwarten. Dieser Zusammenhang wird dadurch bestärkt, dass gerade Initiativen neue Anliegen auf die politische Agenda bringen und damit wohlfahrtsstaatliche Reformen oder sogar soziale Innovationen anstossen und ermöglichen ­können.

Die zweite Perspektive, wie sie etwa Uwe Wagschal und Herbert Obinger vertreten, betrachtet die direkte Demokratie hingegen als institutionellen Vetopunkt, welcher insbesondere den Ausbau des Wohlfahrtsstaates hemmt. Dies wird zentral darauf zurückgeführt, dass die Stimmbürgerschaft neuen Steuern und Ausgaben generell skeptisch gegenüber steht und im Zweifelsfall den Status Quo gegenüber mit Unsicherheit behafteten Reformen vorzieht. Ausserdem beteiligen sich höhere soziale Schichten und somit die typischen Nettozahlenden wohlfahrtsstaatlicher Politik überdurchschnittlich oft an Abstimmungen. Umgekehrt bleibt die ausländische Wohnbevölkerung, die überdurchschnittlich oft sozialstaatliche Leistungen bezieht, im direktdemokratischen Prozess ohne Stimme. Diese Gegebenheiten stellen die oben erwähnte Präferenz für mehr Umverteilung an der Urne in der Realität in Frage und lassen vielmehr vermuten, dass gerade ressourcenreiche Gruppierungen, welche eher einen geringen Wohlfahrtsstaat befürworten, in der direkten Demokratie besonders gut ihre Interessen durchsetzen können.

Empirisch stützen internationale Studien – nicht zuletzt aus den US-amerikanischen Staaten – eher die Sichtweise einer bremsenden Wirkung. Dieser Ansatz erhält auch mit Blick auf die Entwicklung der Schweizer Sozialpolitik Unterstützung. In der Tat gilt die direkte Demokratie – in Kombination mit dem Föderalismus – als die wichtigste Erklärung für die späte Entwicklung des Wohlfahrtstaates in der Schweiz. Das Paradebeispiel für die verzögernde Wirkung ist die Mutterschaftsversicherung, welche bereits 1945 in einem Verfassungsartikel verankert wurde. Das entsprechende Gesetz trat jedoch erst 60 Jahre später und nach zahlreichen an der Urne gescheiterten Anläufen in Kraft. Auch die Einführung zentraler Sozialwerke wie die Alters- und Hinterlassenenversicherung oder die obligatorische Krankenversicherung brauchten mehrere Jahrzehnte, um nicht zuletzt die verschiedenen direktdemokratischen Hürden auf Verfassungs- und Gesetzesstufe zu überstehen. Zugleich wird jedoch auch darauf verwiesen, dass die verzögerte Entwicklung durchaus Vorteile aufweist und der Qualität der eingeführten sozialpolitischen Massnahmen, vor allem aber auch ihrer Abstützung und Stabilität dienlich ist. Ausserdem ist zu erwähnen, dass durch Volksinitiativen eingebrachte Vorschläge die Entwicklung späterer, erfolgreicher Vorlagen durchaus beeinflussten und den Reformprozess immer wieder anstiessen. Dieser scheinbare Widerspruch verdeutlicht die wichtige Unterscheidung zwischen Referenden, welche eine kontrollierende und reformhemmende Funktion ausüben, und Initiativen, mit denen neue Vorschläge in den politischen Prozess eingebracht werden und damit durchaus als Einfallstor sozialer Innovation dienen können.

Trotzdem ist im Zeichen von Wohlfahrtsstaatsrückbau bzw. -umbau die hemmende Wirkung der direkten Demokratie auch gegenwärtig besonders sichtbar: Einmal eingeführte Leistungen und Rechte lassen sich in der direkten Demokratie noch schwieriger wieder zurück nehmen als in rein repräsentativen Systemen, da Bürgerinnen und Bürger dem Abbau explizit zustimmen müssen. Sozialpolitische Reformen erweisen sich im Kontext direkter Mitsprache deshalb als besonders schwierig und lassen sich praktisch nur realisieren, wenn Sparmassnahmen mit Verbesserungen auf der Leistungsseite kombiniert werden. Inwiefern die Blockadeanfälligkeit der direkten Demokratie tatsächlich zu Tage tritt, ist jedoch nicht nur rein institutionell bedingt, sondern hängt massgeblich von anderen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Faktoren ab. So hat etwa die zunehmende parteipolitische Polarisierung seit Beginn der 2000er Jahre die Blockaderisiken erhöht, während in früheren Dekaden die Sozialpolitik trotz direkter Demokratie von langsamen, aber stetigen Entwicklungen gekennzeichnet war.

Die hemmende Wirkung direktdemokratischer Mitsprache auf sozialpolitische Reformen kann somit als eine vergangene, aktuelle, aber auch zukünftige Herausforderung der Schweizer Sozialpolitik betrachtet werden. Die Notwendigkeit von Reformen der Schweizer Sozialwerke ist angesichts des demografischen Wandels sowie des limitierten staatlichen Finanzierungsspielraums weitgehend unbestritten. Trotzdem sind Reformvorschläge seit der Jahrtausendwende wiederholt gescheitert – nicht zuletzt an der Urne. Die Debatte um die Zukunft der Altersvorsorge zeigt beispielhaft die Charakteristiken sozialpolitischer Reformprozesse im Kontext der direkten Demokratie auf: Erstens sind sie, wie bereits erwähnt, dadurch gekennzeichnet, dass sie Kürzungsmassnahmen mit eigentlichen Ausbauelementen kombinieren. Dies hat auch zur Folge, dass umfassende Reformen unwahrscheinlich sind und die finanzielle Entlastung des Staatshaushaltes häufig beschränkt bleibt. Zweitens sind Reformprozesse typischerweise langwierig, weil den austarierten Paket­lösungen meist jahrelange Verhandlungen in Parlament und Regierung vorausgehen. Dies kann als eine indirekte Wirkung der direkten Demokratie gesehen werden: Um Referenden zu verhindern, wird bereits im Parlament versucht, eine möglichst breit abgestützte Lösung zu finden. Drittens sind Reformprozesse selbst unter Antizipation der «Referendumsdrohung» mit Unsicherheit behaftet. Abstimmungskampagnen können unvorhergesehene Dynamiken annehmen und dazu führen, dass der Reformprozess nach einem Nein an der Urne wieder von vorne beginnen muss.

Literaturhinweise

Bonoli, G. & Häusermann, S. (2009). Who wants what from the welfare state? Socio-structural cleavages in distributional politics: evidence from Swiss referendum votes. European Societies, 11(2), 211–232.

Obinger, H. (1998). Politische Institutionen und Sozialpolitik in der Schweiz: der Einfluss von Nebenregierungen auf Struktur und Entwicklungsdynamik des schweizerischen Sozialstaates. Frankfurt a.M.: P. Lang.

Wagschal, U. & Obinger, H. (2000). Der Einfluss der Direktdemokratie auf die Sozialpolitik. Politische Vierteljahresschrift, 41, 466–497.

nach oben