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Erwachsenenschutz

Diana Wider


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Erwachsenenschutz kommt zum Tragen, wenn eine Person infolge eines Schwächezustands (geistige Behinderung, psychische Störung oder andere Gründe) ihre Angelegenheiten nicht oder nur unzureichend besorgen kann und dadurch schutzbedürftig wird. Das Erwachsenenschutzrecht, das im Zivilgesetzbuch geregelt ist und 2013 gesamtrevidiert wurde, sieht verschiedene Instrumente vor, mit denen die Schutzbedürftigkeit behoben und die Interessen gewahrt werden können: Neben der eigenen Vorsorge (Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung) und den Vertretungsrechten von Angehörigen sind auch behördliche Massnahmen vorgesehen. Im vorliegenden Beitrag stehen die behördlichen Massnahmen im Vordergrund.

Die zentralen Revisionsanliegen von 2013 waren die Professionalisierung der Behördenorganisation, die Förderung der Selbstbestimmung, die Stärkung der Familiensolidarität und die Einführung von massgeschneiderten Massnahmen. Die letzten drei Punkte entsprechen den Stossrichtungen der Nachbarländer. Die Professionalisierung der Behördenorganisation war eine Besonderheit der Schweiz (in den Nachbarländern waren die Behörden seit jeher professionalisiert). Auch der Umstand, dass in der Schweiz die gleichen Stellen und Personen neben dem Erwachsenenschutz meistens auch für den Kindesschutz zuständig sind, ist eine Besonderheit (im Ausland sind diese Aufgaben meistens getrennt).

Zum Adressatenkreis des Erwachsenenschutzes gehören Menschen mit psychischen Störungen, Altersgebrechen oder Behinderungen sowie unerfahrene junge Erwachsene, aber auch Menschen, die aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit unerwartet schutzbedürftig werden. Ende 2016 waren schweizweit rund 90 000 Erwachsene (ohne fürsorgerische Unterbringung) von Schutzmassnahmen betroffen (d. h. 1,3 % der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz). Die Fallzahlen nehmen – auch im internationalen Vergleich – seit den 1990er Jahren kontinuierlich zu; Hauptgründe sind die demografische Entwicklung der Bevölkerung sowie die zunehmende Verrechtlichung der Gesellschaft.

Erwachsenenschutzmassnahmen sind be-­hörd­liche Eingriffe in die persönliche Freiheit. Sie stellen den Schutz und das Wohl hilfsbedürf­tiger Personen sicher und sollen deren Selbstbestimmung so weit wie möglich erhalten und fördern. Es geht um Beratung und Unterstützung, oft auch um Vertretung. Die Massnahmen erfolgen meistens im Einvernehmen mit der betroffenen Person, nötigenfalls können sie auch gegen den Willen angeordnet werden. Erwachsenenschutz bewegt sich im Spannungsfeld zwischen selbstbestimmter Lebensführung und fremdbestimmter Interessenswahrung.

Wichtige Werte im Erwachsenenschutz sind die Selbstbestimmung, die Individualisierung und die Sozialraumorientierung. Wichtige Prinzipien sind die Subsidiarität (die Unterstützung durch Familie, nahestehende Personen oder private/öffentliche Dienste haben Vorrang), Komplementarität (die Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Person werden nicht ersetzt, sondern ergänzt und gestärkt) und Verhältnismässigkeit (geeignet und erforderlich, so viel wie nötig und so wenig wie ­möglich).

Zentrale Akteure sind die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) und die Beistandspersonen. Die KESB ordnet eine Massnahme an und beauftragt eine Beistandsperson mit der Umsetzung. Die KESB ist eine interdisziplinäre Fachbehörde, die je nach Kanton als Verwaltungsbehörde oder Gericht, resp. als kantonale oder (inter-)kommunale Behörde konzipiert ist (in der Romandie ist die KESB meist ein Gericht, in der Deutschschweiz meist eine Verwaltungsbehörde). Schweizweit gibt es 142 KESB (Stand Januar 2017) mit total rund 2 000 Mitarbeitenden (ca. 1 300 Fachpersonen aus den Bereichen Recht, Soziale Arbeit und Psychologie, und ca. 700 Personen aus dem Bereich Administration/Revisorat). Bei den Beistandspersonen wird unterschieden zwischen Berufsbeiständen (schweizweit ca. 5 000 Fachpersonen, die bei einer Berufsbeistandschaft oder einem Sozialdienst angestellt sind und durchschnittlich 10 bis 80 Mandate führen und in der Regel einen Abschluss in Sozialer Arbeit haben) und privaten Beistandspersonen (schweizweit ca. 28 000 Personen, die sich als Angehörige oder Privatperson engagieren und durchschnittlich 1 bis 3 Mandate führen). Entscheide der KESB können mittels Beschwerde einem Gericht unterbreitet werden, gegen Handlungen der Beistandsperson können sich Betroffene an die KESB wenden. Eine Bundesaufsicht besteht nicht. Die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) koordiniert zwischen den Kantonen, erhebt die Statistik, gibt Impulse und ist für die Zusammenarbeit mit dem Bund verantwortlich.

Die wichtigsten behördlichen Massnahmen sind die Beistandschaft und die fürsorgerische Unterbringung. Bei den Beistandschaften gibt es verschiedene Arten. Die Aufgabenbereiche der Beistandsperson werden von der KESB entsprechend den Bedürfnissen der betroffenen Person individuell massgeschneidert festgelegt (z. B. Wohnen, Gesundheit, Administration, Finanzen, usw.). Je nach Massnahmenart hat die Beistandsperson unterschiedliche Kompetenzen. Bei einer Begleitbeistandschaft ist es nur eine beratende Funktion. Bei einer Vertretungsbeistandschaft kann die Beistandsperson vertretend handeln, unter Umständen auch gegen den Willen der betroffenen Person. Bei einer Mitwirkungsbeistandschaft benötigen Beistandsperson und betroffene Person die gegenseitige Zustimmung. Bei einer umfassenden Beistandschaft hat die Beistandsperson ein umfassendes Vertretungsrecht und die betroffene Person kann keine Rechtsgeschäfte mehr selber abschliessen (vorbehalten sind höchstpersönliche Rechte). Die häufigste Massnahme ist die Vertretungsbeistandschaft (ca. 75 % aller Massnahmen). Die umfassende Beistandschaft betrifft rund 18 % aller Massnahmen. Im langjährigen Vergleich nehmen die milderen Massnahmen tendenziell zu und die stärkeren Massnahmen tendenziell ab.

Im Erwachsenenschutz agiert der Staat in einem sensiblen Bereich: Der Staat kontrolliert die Fähigkeiten von potenziell schutzbedürftigen Menschen und greift wenn nötig in ihre Persönlichkeitsrechte ein. Das Bekenntnis des Gesetzgebers zur Subsidiarität und Selbstbestimmung und der Fokus auf die Interessen und Bedürfnisse der betroffenen Person sind wichtige Errungenschaften eines liberalen Staates. In der Praxis bestehen vereinzelt Friktionen, weil Angehörige oder die Gesellschaft ein repressiveres Einschreiten verlangen. Die Erwartungen an die Einflussmöglichkeiten des Erwachsenenschutzes sind manchmal überhöht: Es können lediglich Vertretungsrechte eingeräumt und Interessen gewahrt werden, aber Veränderungsprozesse können nicht erzwungen werden. Auch der Schutz der Gesellschaft vor gefährlichen Personen gehört nicht zum Auftrag der KESB. Je nach Fokus schreitet die KESB zu früh oder zu spät ein, interveniert zu stark oder zu schwach.

Weitere Herausforderungen werden beim methodischen Handeln (Diagnostik, Abklärung und Interventionsplanung/-steuerung), der Qualitätssicherung (was ist guter Erwachsenenschutz?), der verbesserten Kooperation mit den Versorgungssystemen (Case Management) sowie der zielgruppenspezifischen Profilschärfung (welche Zielgruppe erhält welche Leistung mit welchem Ziel und welchem Ressourceneinsatz?) geortet. Die interprofessionelle Zusammenarbeit wird noch von Juristen und Juristinnen dominiert. Damit der Erwachsenenschutz seinen Zielen besser gerecht werden kann, müssen sich die nicht-juristischen Professionen, allen voran die Soziale Arbeit, stärker einbringen.

Der demografische Wandel mit der Zunahme von älteren Menschen wird den Erwachsenenschutz quantitativ und aufgrund der zunehmenden Mehrfachproblematiken auch qualitativ herausfordern. Für die zunehmenden Fallzahlen müssen Lösungen gefunden werden, insbesondere sind die Leistungen der vorgelagerten Versorgungssysteme (z. B. Beratung oder Lohnverwaltung durch kommunale Sozialdienste) sowie familiärer Netze auszubauen und besser zu nutzen resp. zu überprüfen und gegebenenfalls zu aktivieren. Auch die Frage, wie die Selbstbestimmung, Autonomie und Selbsthilfe trotz psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung ermöglicht werden kann, ist anzugehen, damit die psychosozialen Leistungen künftig mehr Gewicht erhalten.

Literaturhinweise

Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz KOKES www.kokes.ch

Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutzrecht KOKES (Hrsg.) (2012). Praxisanleitung. Erwachsenenschutzrecht (mit Mustern). Zürich: Dike.

Meier, P. (2016). Droit de la protection de l’adulte. Genève: Schulthess.

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