Exklusion
Unter dem Begriff Exklusion werden aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen der Vertiefung und Verfestigung sozialer Ungleichheiten thematisiert, die insbesondere mit Umbrüchen in der Erwerbsarbeit, dem Umbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und verschärften Migrations- und Grenzpolitiken einhergehen. Soziale Exklusion bezieht sich auf fehlende Teilhaberechte in verschiedenen gesellschaftlichen Dimensionen: Marginalisierung am Arbeitsmarkt bis hin zu Langzeit-Erwerbslosigkeit; Einschränkung der sozialen Beziehungen bis hin zur sozialen Isolation; Ausschluss von Möglichkeiten der Teilhabe an Lebensstandard und an gesellschaftlicher Mitgestaltung. Seit den 1990er Jahren ist der Begriff in soziologischen Zeitdiagnosen als «Metapher des sozialen Wandels» (Castel) und als «neuer Name» für die «soziale Frage in Europa» (Kronauer) stärker verbreitet und wurde rasch auch in sozialpolitischen Debatten aufgenommen.
Exklusion bezieht sich auf unterschiedliche Bereiche (z. B. ökonomische, politisch-institutionelle, kulturelle, räumliche Ausgrenzung) und umfasst mangelnden Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung, gesundheitliche Versorgung und Wohnraum, aber auch zu abstrakteren Gütern wie Rechte, Sicherheit und Anerkennung. Exklusionen in verschiedenen Bereichen können sich dabei wechselseitig verstärken und ineinandergreifen (Intersektionalität).
In die wissenschaftliche und politische Diskussion eingebracht wurde der Begriff in Frankreich ab den 1980er Jahren, wobei Exklusion eng mit dem Herausfallen aus der Erwerbsarbeit verbunden wurde. Der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt bedeutet dabei nicht nur ökonomische Abhängigkeit von einem (tendenziell entsicherten) Sozialstaat, sondern kann auch mit sozialer Isolierung und einem Verlust der Einbindung in soziale Netzwerke einhergehen. Exklusionsdynamiken betreffen zudem auch jene, die (noch) im Erwerbsarbeitsmarkt inkludiert sind: Job-Unsicherheit und die Angst vor sozialem Abstieg reicht bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein und ist damit ein Merkmal der prekarisierten Erwerbsgesellschaft, welches disziplinierend wirkt.
Seit den 1990er Jahren wird Exklusion auch in der Sozialpolitik der Europäischen Union problematisiert. Die (Wieder-)Eingliederung in die Erwerbsarbeit wird dabei als zentrale Strategie im Kampf gegen Exklusion betrachtet. Gemäss des neuen Paradigma der aktivierenden Sozialpolitik und dessen Leitmotiven «Fördern und Fordern» und «Selbstverantwortung» wird von den Erwerbslosen als Gegenleistung für den Leistungsbezug eingefordert, sich erwerbswillig zu zeigen und erwerbsfähig zu halten.
Prozesse räumlicher Exklusion zeigen sich in Bezug auf Wohnen unter dem Stichwort «Gentrifizierung» als Verdrängung aus dem städtischen Raum. Damit in Verbindung steht ein ungleicher Zugang zu qualitativ guter sozialer Infrastruktur (Schulen, Gesundheitswesen) und zu lebenswertem Raum (Luftqualität, Lärm).
Staatsbürgerliche Exklusion wird heute auf politischer Ebene insbesondere durch verschärfte Migrationsgesetze vorangetrieben. Diese führen einerseits zum Ausschluss bestimmter Gruppen und Nationalitäten von Aufenthaltsrechten und mit Hannah Arendt damit vom grundlegenden «Recht, Rechte zu haben». Daneben kommt es zu einer Stratifizierung von sozialen, ökonomischen und politischen Rechten durch die unterschiedliche Kategorisierung von MigrantInnen und Geflüchteten (EU- versus Drittstaaten-Angehörige, hochqualifizierte versus niedrigqualifizierte Migrierte, Asylsuchende, Sans-Papiers) entlang den festgeschriebenen Aufenthaltsbedingungen.
In der Schweiz taucht der Begriff Exklusion in den wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten erst relativ spät auf. Besondere Aufmerksamkeit kommt den sogenannten working poor zu, wobei sich an deren Situation zeigt, dass Eingliederung in Erwerbsarbeit nicht mit der Garantie eines soziokulturell angemessenen Lebensstandards einhergehen muss. Bedeutend war das Nationale Forschungsprogramm (NFP) 51 zu Integration und Ausschluss, bei dem insbesondere fokussiert wurde auf Diskurse um In-/Exklusion, die Praxis staatlicher und privater Institutionen (u. a. Sozialhilfe, Arbeitsintegrationsbehörden, Psychiatrie) und die Situation und das Handeln von Menschen, die von Exklusionsprozessen betroffen sind.
Auch in der Schweiz bestimmt das Paradigma der Aktivierung seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend die Entwicklung der Arbeitslosenversicherung, der Sozialhilfe und der Invalidenversicherung. Dabei sollen Beitragsempfangende mittels Kursen und Massnahmen schneller wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden, gleichzeitig werden sie aber auch stärkeren Kontrollen und Sanktionen unterstellt. Als problematisch beurteilt wird daran, dass neue Ausschlüsse und Stigmatisierungen produziert und eine weitere Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse legitimiert werden. Zudem ist aus einer geschlechterpolitischen Perspektive kritisch anzumerken, dass Care-Verpflichtungen (die insbesondere Frauen betreffen) in den aktivierenden Massnahmen häufig ignoriert und nicht anerkannt werden.
Der (graduelle) Ausschluss von Staatsbürgerschaft führt in der Schweiz dazu, dass rund 25 % der Bevölkerung an den formalen politischen Partizipationsprozessen nicht teilnehmen können und kein Stimm- und Wahlrecht haben. Migrierte und Personen mit Migrationshintergrund sind neben sozialen und ökonomischen Formen der Exklusion (z. B. Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt) zudem auf einer symbolischen Ebene von Grenzziehungen zwischen «Drinnen» und «Draussen» betroffen, wobei die Einteilung in «Wir» und «die Anderen» mit diskriminierenden und rassistischen Zuschreibungen verbunden sein kann. Am stärksten von Exklusion der Staatsbürgerschaft betroffen sind die Sans-Papiers.
Von kritischen Stimmen zum Exklusionsbegriff wird bemängelt, dass das Konzept diffus bleibe und theoretisch mangelhaft präzisiert werde – insbesondere in Abgrenzung zu klassischen Armutskonzepten und zur traditionellen Klassentheorie. Zudem wird die dichotome Vorstellung von «Drinnen» und «Draussen» und das damit verbundene Bild einer «Innen-Aussen»-Spaltung der Gesellschaft kritisiert. Die analytische Trennung in «Inkludierte» und «Exkludierte» verstelle den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge und die konfliktreiche und machtvolle Beziehung zwischen In-/Exklusion und analysiere zu wenig die Logik, nach der das «Drinnen» überhaupt erst das «Draussen» produziert (Castel). Zudem werde Inklusion zum normativ überhöhten Gegenbegriff zu Exklusion stilisiert, womit man unterschlage, dass Inklusion z. B. mittels sogenannten Eingliederungsmassnahmen häufig auch bedeutet, sich an Praktiken und Werte der inkludierten Gruppen assimilieren zu müssen. Schliesslich lenke die Dichotomie von «Drinnen» und «Draussen» die Aufmerksamkeit in erster Linie auf gesellschaftliche Schichten an den sogenannten Rändern der Gesellschaft, für die sogenannten Risikofaktoren – u. a. persönliche Defizite – als Ursache ihres Ausschlusses identifiziert werden (Zuschreibung der Verantwortung ans Individuum) und die damit zum Zielobjekt einer tendenziell technokratischen Sozialarbeit werden.
Der Begriff der Exklusion sollte demnach nicht als abgeschlossene sozialstrukturanalytische Kategorie, sondern vielmehr als gradueller Prozess gefasst werden und zudem relational konzipiert sein. Auf diese Weise gerät die Dynamik zwischen Inklusion und Exklusion in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen in den Fokus und es werden stärker auch die Macht- und Ungleichheitsverhältnisse thematisiert, die zu neuen sozialen Spaltungen und zum Entzug sozialer Sicherungen führen. Entsprechend muss sich eine an sozialer Gerechtigkeit orientierte Gesellschaft nicht in erster Linie um (Wieder-)Eingliederung bemühen, sondern vielmehr um die Beseitigung ausgrenzender sozialer Verhältnisse. Die von Exklusion Betroffenen sollten dabei nicht bloss als passive Opfer, sondern als Subjekte mit eigener Handlungsmacht (agency) angesehen werden, die, wie es Bourdieu 1997 in Elend der Welt postulierte, eigensinnig und auch kreativ gegen Formen und Mechanismen der sozialen Exklusion ankämpfen.
Literaturhinweise
Castel, R. (1995). Les métamorphoses de la question sociale: une chronique du salariat. Paris: Fayard.
Kronauer, M. (2002). Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a. M.: Campus.
Kutzner, S., Mäder, U., Knöpfel, C., Heinzmann, C. & Pakoci, D. (Hrsg.) (2009). Sozialhilfe in der Schweiz: Klassifikation, Integration und Ausschluss von Klienten. Zürich: Rüegger.