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Familie

Marianne Modak

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die heutige Vielfalt der Familienformen verunmöglicht eine abschliessende Definition dessen, was unter einer «richtigen» Familie zu verstehen ist. So ringen private und institutionelle Akteure und Akteurinnen heute um verschiedene Normvorstellungen von Familie.

Jenseits dieser Schwierigkeit bezeichnet «Familie» die Gesamtheit der Individuen, die durch biologische Abstammung, Heirat oder ein anderweitiges Verwandtschaftsverhältnis miteinander verbunden sind, über gegenseitige Rechte und Pflichten verfügen und eine Kernfamilie aus Vater, Mutter und Kindern oder eine erweiterte Familie mit Grosseltern, Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins usw. bilden. In der Schweizer Sozial- und Familienpolitik spielt die erweiterte Familie allerdings keine Rolle, im Vordergrund der sozialpolitischen Aktionen und Ansprüche steht die Kernfamilie. So sind etwa nur Verwandte in auf- und absteigender Linie zur Unterstützung von Verwandten in finanzieller Not verpflichtet. Schliesslich bezeichnet der Familienbegriff auch die Institution, in welcher in symbolischer, moralischer und materieller Hinsicht Leben erhalten und neu geschaffen wird und in der den Familienmitgliedern Aufgaben im Bereich der Pflege, Erziehung, emotionalen Unterstützung und Integration zugedacht werden. Diese Zuschreibungen entsprechen und reproduzieren einer geschlechterbedingten Arbeitsteilung.

Diese Ungleichheit der Geschlechter in der Familie wird durch die Unterstützungsangebote für Familien kaum grundlegend korrigiert, nicht zuletzt, weil sich die Familienpolitik nur schwer vom fordistischen Familienmodell lösen kann. Dieses Modell basiert auf der Vorstellung, dass in der Kernfamilie der Vater allein für das Einkommen sorgt und die Mutter die Kinder betreut. Das durch eine stark geschlechtshierarchische Organisation des Ehe- und Familienlebens geprägte Rollenbild gerät heute gleich doppelt ins Wanken. Aufgrund der heutigen Wertvorstellungen lässt sich ein Familienmodell, in dem Familien- und Berufsarbeit nach rein geschlechtsspezifischen und -hierarchischen Kriterien aufgeteilt werden, weder mit der in der Bundesverfassung verankerten Gleichstellung von Mann und Frau noch mit dem Grundsatz von Gerechtigkeit und Autonomie des Individuums vereinbaren. Auch aus praktischer Sicht ist eine Familienorganisation, die auf einem lebenslangen Eheversprechen und auf der Vorstellung, dass der Mann alleine mit seinem Einkommen die Familie unterhalten kann, in der heutigen Schweizer Gesellschaft weder praktikabel noch sinnvoll – nicht zuletzt wegen der hohen Scheidungsrate, der Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und prekären Arbeitsbedingungen. Dennoch besteht das traditionelle Familienmodell heute in einer leicht an die neuen Gegebenheiten angepassten Form weiter: Immer noch ist es vorwiegend die Frau, die sich um den Haushalt kümmert und gleichzeitig einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht. Das ist heute nicht nur das häufigste Familienmodell der Schweiz, sondern auch dasjenige, das von der Familienpolitik am stärksten gefördert wird, obwohl es Ungleichheit und Prekarität Tür und Tor öffnet. So ist etwa im Jahr 2017 die Altersrente von Männern mehr als ein Drittel höher als jene von Frauen, weil Letztere weniger stark in den Arbeitsmarkt eingebunden sind. Überdies beschränken sich die Massnahmen für eine bessere «Vereinbarkeit» von Beruf und Familie auf die Förderung von Teilzeitarbeit und zielen damit auf die Mütter ab, die ihren Alltag an jenen der Familienmitglieder, an die Schulstundenpläne und die Öffnungszeiten von Betreuungseinrichtungen anpassen sollen. Schliesslich zeugt auch die Tatsache, dass nur erwerbstätige Mütter Anspruch auf Mutterschaftsurlaub haben, von der Geringschätzung der Hausarbeit. Dadurch, dass ausserdem nur biologische Mütter Anspruch auf Mutterschaftsurlaub haben, zeigt, dass Mutterschaft weiterhin durch biologische Abstammung begründet wird. Letztlich zieht die öffentliche Politik die heterosexuelle Zweielternfamilie als Massstab heran und erwartet von ihr, dass ein weibliches Familienmitglied die Betreuungsarbeit leistet. Das geht zu Lasten von anderen Familienformen wie Patchwork- und Regenbogenfamilien mit einem dritten Elternteil sowie von getrennt lebenden Eltern, die die Kinderbetreuung unter sich aufteilen (oder auch nicht) und denen Anerkennung und Unterstützung versagt bleiben. Die Regenbogenfamilie wird von den Gesetzen also (noch) nicht berücksichtigt. Auch die Mehrelternschaft, in der etwa Stief- oder Grosseltern Elternarbeit leisten, wird nur selten anerkannt; die Grundsätze, auf denen das westliche Abstammungsmodell (exklusives Kindsverhältnis zu zwei Elternteilen unterschiedlichen Geschlechts) beruht, sind in der Praxis zwar umstritten, geben aber dennoch den rechtlichen Rahmen für die Elternschaft vor.

Fakt ist, dass Individuen, die in Familiengebilden zusammenleben, ihr Leben heute nach pluralistischen, willentlich oder intuitiv ausgebildeten Idealen organisieren oder dies tun möchten. Sie wollen bei der Gestaltung ihres Privatlebens und der Familiengestaltung eine aktive Rolle einnehmen. An diese neuen Gegebenheiten passen sich die öffentlichen Institutionen nur teilweise an. Die aktuellen Praktiken und Debatten zeigen zwar, dass die unumstösslichen Pfeiler der Institution Familie, etwa die Heterosexualität, heute hinterfragt werden, doch Familiengruppen, die sich für diesen sozialen Wandel engagieren, sind immer noch Konflikten, Diskriminierungen und Risiken ausgesetzt. Da sie kaum richtig geschützt werden, kommen die Veränderungen mitunter nur privilegierten Kreisen zugute.

Auf diesem schmalen Grat zwischen Wandel und Bewahrung muss der Begriff der Familie als legitimer Gegenstand der Politik neu definiert werden. Im Zentrum der heutigen Sozialpolitik stehen das Kind und seine Bedürfnisse. Umso kontroverser gestaltet sich die Festlegung des familiären Rahmens, in dem diese Bedürfnisse bestmöglich berücksichtigt werden sollen. Lange wurde die Familie aus der öffentlichen Debatte verdrängt, entsprach sie doch vermeintlich einer natürlichen Ordnung mit klar abgegrenzten Mutter- und Vaterrollen. Auch heute noch tut sich die Politik schwer, die Familie in ihre Debatten aufzunehmen und für Gleichstellung zu sorgen. Die jüngsten Studien zeigen, dass sich Männer vergleichsweise selten und selektiv fürs Gemeinwohl engagieren und dass die Schweiz im Vergleich mit den Ländern der EU in Sachen Vaterschafts- und Eltern­urlaub den traurigen letzten Platz belegt.

Die vielfältigen Familienformen, die im Laufe der Geschichte entstanden sind, aber auch die Ausrichtung der Familien- und Sozialpolitik zeigen, wie und im Rahmen welcher Familien- und Organisationsformen eine Gesellschaft auf die grundlegenden Fragen des Entstehens und des Schutzes des Lebens, also Geburt, Erziehung Betreuung der schwächeren Menschen eingeht. Dass die gemeinsame elterliche Sorge im Scheidungsfall zur Regel erklärt wurde, die «eingetragene Partnerschaft» und das Recht auf Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt wurden, zeigt, dass solche Normen nicht in Stein gemeisselt sind. Veränderungen stossen aber immer auch auf Widerstand. Die heterosexuelle Familie ist eine Institution, die Geschlechterdiskriminierung hervorbringt, sie ist ein vom Antagonismus der Geschlechter geprägter Beziehungsraum, in welchem die Haushalts- und Betreuungsarbeit geringgeschätzt wird und die ökonomische Ungleichheit zwischen Mann und Frau zur Folge hat.

Alle Bestrebungen für eine Neudefinition des Familienbegriffs und die Schaffung eines gerechten Familienmodells scheitern hauptsächlich an der fehlenden Bereitschaft, diesen Antagonismus anzuerkennen.

Literaturhinweise

Kellerhals, J., Troutot, P.-Y. & Lazega, E. (1984). Microsociologie de la famille. Paris: Presses Universitaires de France.

Levy, R. & Le Goff, J.-M. (Éd.) (2016). Devenir parents, devenir inégaux: transition à la parentalité et inégalités de genre. Zurich: Seismo.

Moller Okin, S. (2008). Justice, genre et famille. Paris: Flammarion.

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