Wörterbuch durchsuchen

Familienkonfigurationen

Eric D. Widmer

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Betrachtung von Familien aus der Konfigurationsperspektive lehnt sich direkt an die Arbeiten von Norbert Elias an, der Konfigurationen als Strukturen von wechselseitig aufeinander angewiesenen und voneinander abhängigen Individuen definiert. Nach dieser Sichtweise werden die verschiedenen Zweierbeziehungen (Dyaden) innerhalb einer Familie – wie etwa die Paarbeziehung oder die Beziehung zwischen Eltern und Kindern – in erheblichem Masse durch die breiteren interpersonellen Beziehungsgeflechte beeinflusst, in die sie eingebettet sind. Die zur Beschreibung dieser Geflechte herangezogenen Interdependenzmodelle hängen weitgehend davon ab, wie die Macht in diesen wichtigen Zweierbeziehungen verteilt ist, wie Konflikte gelöst werden und welche Unterstützung besteht. Bei der Betrachtung von Familien aus der Konfigurationsperspektive geht es somit nicht primär darum, die dynamischen Prozesse innerhalb der einzelnen Familiendyaden zu erforschen oder eine klare Trennung zwischen dem Bereich der Familie und dem der Elternschaft zu ziehen. Vielmehr sollen die komplexen, sowohl positiven (vielfältige Unterstützung, emotionale Nähe) als auch negativen (Konflikte, Stress, Ausbeutung) Interdependenzen beleuchtet werden, die zwischen den verschiedenen Familiendyaden bestehen.

Ein weiteres Merkmal der Familienkonfigurationen besteht darin, dass sie nicht von vornherein definiert werden können durch Kriterien wie der Zugehörigkeit zum selben Haushalt oder der Tatsache, dass die betreffenden Personen durch die Ehe oder eine rechtlich anerkannte Abstammung miteinander verbunden sind. Legte man diese Kriterien an, würde dies der Vielfalt der Familien, «auf die es ankommt», nicht gerecht werden. Denn Familien funktionieren nicht nach solchen Verwaltungskriterien. Ist ein Paar in zweiter Ehe verheiratet, kommt es beispielsweise vor, dass sich die im Haushalt lebenden Personen nicht als Mitglieder ihrer jeweiligen Familie verstehen. Umgekehrt werden die meisten Menschen in der Schweiz auch Personen, die nicht in ihrem Haushalt leben, zur Familie, auf die es ankommt, hinzuzählen – und womöglich sogar nahestehende Menschen einschliessen, mit denen sie nicht direkt durch Blutsverwandtschaft oder Ehe verbunden sind. Somit ist das Konzept der Familienkonfigurationen nicht deckungsgleich mit dem von Demografen verwendeten Begriff der «Familienstrukturen». Denn bei der Betrachtung von Familien aus der Konfigurationsperspektive stehen die tatsächlichen Interdependenzen zwischen Personen im Mittelgrund, die sich unabhängig von ihrem jeweiligen Wohnsitz und ihren Verwandtschaftsverhältnissen selbst als Mitglieder einer Familie betrachten.

Durch die Fokussierung auf Familienkonfigurationen lässt sich somit eine eingeengte Sichtweise der Familie vermeiden, die zuweilen dafür verantwortlich war, dass unwirksame oder sogar diskriminierende familienpolitische Massnahmen ergriffen wurden. Wie sich die Familienkonfigurationen zusammensetzen, ist nicht nur für die Sozialpolitik, sondern auch für andere öffentliche Politikbereiche entscheidend. So stützt sich beispielsweise die Migrationspolitik und die Politik der Familienzusammenführung auf implizite Definitionen der Kernfamilie (Ehepartner und Kinder), die bisher noch keiner systematischen Bewertung unterzogen worden sind. Dasselbe gilt mit Blick auf die Massnahmen zugunsten pflegender Angehöriger. Hier wird häufig davon ausgegangen, dass die erwachsenen Kinder per definitionem nahestehende Personen sind und eine aktive Helferrolle einnehmen. Im Zuge der Pluralisierung der Lebensverläufe haben sich die Familienkonfigurationen diversifiziert und über die Kernfamilie hinaus ausgeweitet. Sie umfassen eine breite Palette von Bindungen, die von der Beziehung zu den eigenen Geschwistern bis hin zur Rolle in der Wahlfamilie reichen, die sich aus Personen zusammensetzt, welche nicht durch Heirat oder Elternschaft miteinander verbunden sind. Durch eine Fixierung auf die Definition der Kernfamilie laufen die gesellschaftlichen Akteure Gefahr, die familiären Ressourcen der Menschen zu unterschätzen.

Die Frage der Familiensolidarität hat viel Aufmerksamkeit erregt. So wurde untersucht, wie Familienkonfigurationen zu gegenseitiger Hilfeleistung führen. Die Untersuchungen zeigen eindeutig, dass Unterstützung faktisch hauptsächlich innerhalb der ehelichen Beziehung geboten wird. Die anderen Familienmitglieder leisten demnach eine eher punktuelle Hilfe, insbesondere in Krisen- oder Übergangszeiten. Hilfsbereitschaft entsteht zum Beispiel im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft, einer Krankheit, finanziellen Problemen oder im Scheidungsfall. Allerdings ist die Betreuung von Enkeln durchaus regelmässiger und struktureller Natur. Diese Formen der Solidarität können sowohl emotionale als auch rechtliche Rechtfertigungen haben. So sind Hilfsbeziehungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern durch strenge normative Regeln geprägt, während andere Familienverhältnisse, wie zum Beispiel die Beziehungen unter Geschwistern deutlich mehr von der jeweiligen emotionalen Nähe abhängen.

Für die Familienkonfigurationen ist der tatsächliche regelmässige Austausch im Allgemeinen weniger relevant. Entscheidender ist die Möglichkeit, im Notfall das bestehende Hilfspotenzial in Anspruch nehmen und sich der Familie zugehörig fühlen zu können, was für die Identität des bzw. der Einzelnen sehr wichtig ist. Bei der Bildung dieses Kapitals sind die Familienkonfigurationen sehr wichtig. Gleichzeitig können sie aber auch gesellschaftlichen und psychischen Stress verursachen. So haben verschiedene Untersuchungen gezeigt, dass Menschen dank des durch die Familienkonfigurationen gebildeten sozialen Kapitals in die Lage versetzt werden, mannigfaltige Schwierigkeiten zu meistern – wie berufliche Probleme (Arbeitslosigkeit und andere berufliche Notlagen) oder Krankheiten bzw. gesundheitliche Beeinträchtigungen. Dieses soziale Kapital entfaltet allerdings oft unerwartete und mitunter absurde Effekte. Wenn beispielsweise die Familienkonfiguration durch sehr enge Beziehungen geprägt ist, begünstigt dies das Festhalten an traditionellen Geschlechterrollen. Untersuchungen haben diesbezüglich gezeigt, dass junge Paare aus Familien mit eng mit­einander verbundenen Mitgliedern die häuslichen und beruflichen Aufgaben mit grösserer Wahrscheinlichkeit sehr ungleich zwischen Mann und Frau aufteilen als andere Paare. Der durch die Familienkonfigurationen gebotene Rückhalt wirkt sich also in widersprüchlicher Weise auf die Fähigkeit der Individuen aus, den Anforderungen der modernen Gesellschaft an ihre Beschäftigungsfähigkeit und Vielseitigkeit gerecht zu werden. Des Weiteren können Familienkonfigurationen Konflikte und Stress verursachen, werden Familienmitglieder doch oft mit überzogenen und manchmal widersprüchlichen Unterstützungsforderungen konfrontiert. So deuten mehrere Untersuchungen mit Seniorinnen und Senioren darauf hin, dass sie ihre Familienbeziehungen sehr ambivalent betrachten. Sie sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, eine enge Verbindung zu den jüngeren Generationen zu halten, und dem Gefühl extremer Überlastung. Ältere Frauen mit Kindern finden sich überdurchschnittlich oft in solchen Situationen wieder, die durch ein grosses Beziehungsungleichgewicht geprägt sind. Die Solidarität in den Familien bringt somit eine Ambivalenz mit sich, die sich mitunter negativ auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden auswirken kann.

Einige Studien haben schliesslich gezeigt, dass die Zusammensetzung der Familienkonfigurationen und die Ressourcen, die den einzelnen Individuen dank dieser Konfigurationen zur Verfügung stehen, von den jeweiligen Rahmenbedingungen abhängen – darunter auch von der Sozialpolitik. Eine Sozialpolitik sozialdemokratischer Prägung scheint die Familienkonfigurationen und ihre Unterstützungsfunktionen offener zu definieren als eine konservative bzw. korporatistische Sozialpolitik. Im ersten Kontext gibt es einen Fokus der familiären Intervention auf die emotionale Unterstützung. Im zweiten dagegen wird der Familie ungeachtet ihrer Möglichkeiten bei der Ausübung generationsübergreifender Solidarität eine führende Rolle zugeschrieben – insbesondere in Zeiten beschränkter staatlicher Finanzmittel.

Eines scheint heute auf jeden Fall unabdingbar: Die gesellschaftlichen und politischen Akteure müssen bei ihren Überlegungen und ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen, wie variabel und dynamisch die Interdependenzen innerhalb der Familienkonfigurationen unserer Zeit sind.

Literaturhinweise

De Carlo, I., Aeby, G. & Widmer, E.D. (2014). La variété des configurations familiales après une recomposition: choix et contraintes. Revue suisse de sociologie, 40(1), 9–27.

Kellerhals, J. & Widmer, E.D. (2012). Familles en Suisse: nouveaux liens (3e éd.). Lausanne: Presses Polytechniques et Universitaires Romandes.

Widmer, E. D. & Lüscher, K. (2011). Les relations intergénérationnelles au prisme de l’ambivalence et des configurations familiales. Recherches familiales, 1, 49–60.

nach oben