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Familiennachzug

Cesla Amarelle, Stefanie Kurt

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Familiennachzug ist eine gesetzliche Regelung, welche es einer ausländischen Person ermöglicht, ihre Familienmitglieder im Hinblick auf ein weiteres Zusammenleben in die Schweiz kommen zu lassen. Der Schutz des Familienlebens wird durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 13 und 14 der Bundesverfassung garan­tiert. Die Schweiz ist demnach verpflichtet, das Familienleben zu schützen. Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert zwar weder das Recht, in ein bestimmtes Land einzureisen, noch das Recht, sich darin aufzuhalten. Das Recht auf Familienleben ist jedoch tangiert, wenn ein Staat die Trennung einer Familie durchsetzt oder die Familie daran hindert, ein gemeinsames Leben zu führen, beispielsweise indem er eine Aufenthaltsbewilligung nicht bewilligt. Das Recht auf Familienleben kann auch bei einer Heirat oder für die Erteilung eines Visums geltend gemacht werden. Bei einer Trennung oder Scheidung kann der sogenannte «umgekehrte Familiennachzug» (siehe unten) geltend gemacht werden, sofern Kinder mit Schweizer Nationalität vorhanden sind und der Elternteil mit der elterlichen Obhut von einer Ausweisung bedroht ist. Obschon der Schutz des Familienlebens in den internationalen, europäischen und nationalen Gesetzesgrundlagen verankert ist, garantiert die Schweiz ihn nicht allen Ausländerinnen und Ausländern in vollem Umfang.

Die Schweiz reguliert den Familiennachzug seit den 1980er Jahren auf Gesetzesebene, bis dahin gab es kaum entsprechende Regelungen. Das Saisonnierstatut gab keinen Anspruch auf Familiennachzug. Dies hatte zur Folge, dass sich die Familienangehörigen häufig irregulär im Land aufhielten. Heute wird diese Frage durch mehrere Gesetze geregelt, insbesondere durch das Asylgesetz, das Ausländergesetz und das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten.

Da die Schweiz ein Bundesstaat ist, sind die Kantone für die Anwendung der Rechtsnormen und Regeln des Familiennachzugs zuständig. Das Bundesrecht sieht Rechte bzw. Möglichkeiten für den Familiennachzug vor, die sich je nach rechtlichem Status unterscheiden. Allerdings muss in allen Fällen eine Reihe von Kriterien erfüllt werden, wie beispielsweise ein ordnungsgemässer Aufenthalt, eine bedarfsgerechte Wohnung oder ausreichende finanzielle Mittel. Die Praxis der Kantone unterscheidet sich vor allem bei der Anwendung und der Auslegung von Kriterien wie «das Interesse des Kindes», «wichtige familiäre Gründe» oder «finanzielle Bedürfnisse» stark. Dies hat zur Folge, dass Sozialhilfebeziehende oder Personen mit einem vermuteten Risiko auf Sozialhilfebezug vom Recht auf Familiennachzug ausgeschlossen werden.

Eine der Besonderheiten des schweizerischen Systems des Familiennachzugs besteht darin, dass es Schweizer Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union diskriminiert (umgekehrte Diskriminierung). Für eine Schweizer Person, die den Familiennachzug für eine Bürgerin oder einen Bürger eines Drittstaats beantragt, gelten strenge Bedingungen (nur Familiennachzug von Kindern bis 18 Jahre, kein Nachzug von Verwandten in aufsteigender Linie), während die Bürgerinnen und Bürger aus der Europäischen Union Anspruch auf einen grosszügiger geregelten Nachzug haben (Kinder bis 21 Jahre sowie Stiefkinder und Stiefeltern). Diese Diskriminierung hat je nach geltenden Rechtsvorschriften eine unterschiedliche Praxis zur Folge.

Die Rechtsprechung und insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat einen weiteren zentralen Aspekt behandelt: den «umgekehrten Familiennachzug». Hier stellt sich die Frage, ob sich ein (zusammenzuführender) ausländischer Elternteil auf das Aufenthaltsrecht seines (zusammenführenden) minderjährigen Kindes stützen kann, um eine Aufenthaltsbewilligung zu beantragen. Die Schweizer Behörden haben sich mehrere Jahre lang geweigert, dieser Möglichkeit stattzugeben. Das Bundesgericht hat jedoch 2009 die Auslegung des «umgekehrten Familiennachzugs» des Europäischen Gerichtshofs übernommen und in zwei Fällen Eltern aus Drittstaaten, deren Kind die Schweizer Nationalität besitzt, eine Aufenthaltsbewilligung erteilt. Die Bundesrichter haben in diesen Entscheiden den Fokus vor allem auf das übergeordnete Interesse des Kindes gemäss dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes und auf seine Schweizer Nationalität, die ihm erlaubt, aus der Schweiz aus- und wieder einzureisen, gelegt.

Die Debatten rund um den Familiennachzug konzentrieren sich auf zwei Fragen: Es geht zunächst darum, wie der Familienbegriff ausgelegt und wie «Familie» in unserer Gesellschaft praktiziert wird. Diese heiklen Fragen wirken sich auf die Interpretation des Begriffs der Familieneinheit aus. Daraus folgt, dass Rechtsvorschriften mit einer engen Definition von Familie bewirken, dass gewisse persönliche Bindungen nicht geschützt werden. Ein aktuelles Beispiel ist die Umsetzung der Volksinitiative über die Rückschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer, die generell eine automatische Rückschaffung – mit Ausnahmen für Härtefälle – vorsieht. Eine solche Praxis kann schwerwiegende Folgen für das Familienleben haben. Zudem wird der im internationalen Recht verankerte Schutz des Familienlebens durch die Volksinitiative in Frage gestellt, da sie das nationale Recht über das internationale Recht stellt. Die zweite Frage steht im Zusammenhang mit den zunehmenden Flüchtlingsströmen und der Trennung von Familien während der Flucht. Der Familiennachzug ist für diese neuen Migrantinnen und Migranten immens wichtig. Er wird dadurch für die Befürworter und Befürworterinnen einer restriktiveren Migrationspolitik zur Zielscheibe.

Literaturhinweise

Amarelle, C., Christen, N. & Nguyen, M. S. (Éd.) (2012). Migrations et regroupement familial. Berne: Stämpfli.

Amarelle, C. & Nguyen, M. S. (Éd.) (2017). Code annoté en droit des migrations (vol. II, Loi sur les étrangers LEtr). Berne: Stämpfli.

Dubacher, C. & Reusser, L. (2012). Familiennachzug und das Recht auf Familienleben. Bern: Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht.

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