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Föderalismus

Michelle Beyeler


Erstveröffentlicht: December 2020

Föderalismus steht für ein Regierungssystem, bei dem die staatliche Souveränität zwischen der Zentralregierung und regionalen Regierungen geteilt wird. Den Gliedstaaten wird in einem föderalistischen System territoriale Eigenständigkeit gewährt, also entscheidungsrelevante politische Macht und die Garantie der eigenen Identität und Grenzen. Auch haben die Gliedstaaten Möglichkeiten, die Entscheide des Zentralstaates mitzutragen, wobei eine gleiche oder angeglichene Repräsentation von Gliedstaaten ungleicher Bevölkerungsgrösse angestrebt wird. Die Aufgabenteilung zwischen Bundesstaat und Gliedstaaten wird zwar auf Bundesebene geregelt, aber unter Mitbestimmung der Gliedstaaten. Föderalistisch organisierte Staaten sind zum Beispiel die Schweiz, Deutschland, Belgien, die USA, Kanada oder Indien.

Föderalismus geht zwar in der Regel mit Dezentralisierung der Verwaltungsaufgaben einher, ist aber nicht damit gleichzusetzen. Es gibt auch Staaten, wie zum Beispiel Schweden oder Dänemark, die diverse staatliche Aufgaben sowie die Erhebung der für deren Finanzierung notwendigen Steuern weitgehend an dezentrale Gebietskörperschaften delegieren, diesen aber keine abschliessende Regulierungskompetenz, und somit keine staatliche Souveränität zugestehen.

Die Schweiz kann als paradigmatischer Fall eines föderalistisch organisierten Staates angesehen werden. Kein anderes Land hat im Vergleich zur geografischen Grösse derart viele Gliedstaaten. Die Gliedstaaten der Schweiz, Kantone oder auch Stände genannt, verfügen über sehr weit ausgebaute Selbstbestimmungsrechte. Die beiden wichtigsten Grundsätze des Föderalismus, die der Souveränität und der Subsidiarität, werden in Artikel 3 der Bundesverfassung festgehalten: «Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.» Die Kantone sind frei, sich, unter Berücksichtigung einiger Grundprinzipien wie der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Gemeindeautonomie, intern selber zu organisieren. Sie haben eigene Verfassungen, eigene legislative, exekutive und juristische Entscheidungsorgane. Alle Aufgaben, die nicht dem Bundesstaat zugeordnet werden, fallen automatisch in den Kompetenzbereich der Kantone. Selbst da, wo der Bund die Regulierungskompetenz hat, sind in der Regel die Kantone mit dem Vollzug der Staatstätigkeiten beauftragt.

Zusammen mit der direkten Demokratie ist der Föderalismus mitverantwortlich für die verzögerte Herausbildung des Schweizer Sozialstaats. Denn der Schweizer Bundesstaat hatte immer erst dann sozialpolitische Regulierungskompetenzen, wenn er dazu per Verfassungsbestimmung ermächtigt wurde. Hierzu musste jeweils zuerst ein Verfassungsauftrag formuliert werden, der dem Doppelmehr-Referendum von Volk und Ständen unterliegt. Nur wenn die Stimmberechtigten insgesamt (Volksmehr) und auch die Mehrheit der Stände zustimmen, kann die Schweizer Verfassung geändert werden. Die Mehrheit der Kantone kann eine sozialpolitische Kompetenzverlagerung hin zum Bundesstaat somit verhindern. Dies geschah beispielsweise 2013. Damals wurde der Familienartikel, der den Bund ermächtigt hätte, Massnahmen im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ergreifen, von einer Mehrheit der Stimmbevölkerung gutgeheissen, in einer knappen Mehrheit der Kantone konnte sich das Anliegen aber nicht durchsetzen.

Der Föderalismus ist aber nicht nur eine Bremse sozialstaatlicher Entwicklung, sondern auch eine Quelle der Innovation. Die hohe Autonomie gibt den Kantonen und den grösseren Gemeinden und Städten auch Möglichkeiten, eigene Lösungen und Innovationen auszuarbeiten. Innerhalb der Schweiz können verschiedene Varianten parallel implementiert werden, unterschiedliche Erfahrungen gemacht und ausgetauscht werden. Da sich die Einstellungen der Bevölkerung zu sozialpolitischen Fragen zum Teil je nach Region stark unterscheiden, ermöglicht der Föderalismus eine Anpassung an die regionalen Wertesysteme oder Begebenheiten. Beispiele für kantonale Innovationen sind die Mutterschaftsversicherung des Kantons Genf, die aufgebaut wurde, bevor auf nationaler Ebene eine mehrheitsfähige Lösung gefunden werden konnte, oder die Familienergänzungsleistungen, wo der Kanton Tessin ein Pioniersystem aufbaute.

Die Kantone selber sind intern ebenfalls föderalistisch organisiert und ihre eigenen «Gliedstaaten», die Gemeinden, können über eine Reihe von politischen Aufgaben abschlies­send entscheiden. Welche das sind, unterscheidet sich je nach Kanton. Manche Kantone ver­fü­gen über eine zentralisiertere interne Orga­ni­sation als andere. Im Bereich der Sozial­hilfe beispielsweise ist die Gemeindeautonomie in den grösseren Ostschweizerkantonen sehr ausgeprägt, während in der Westschweiz die Kantone meist viel stärker steuern und eingreifen. In einigen Kantonen wiederum, dazu gehören Genf und Glarus, wird die Sozialhilfe durch den Kanton entrichtet.

Die Koordination und Zusammenarbeit im Bereich der Sozialpolitik ist im föderalistischen System komplex. Um die Zusammenarbeit zu verbessern und die Interessen auf der höheren Regierungsebene gebündelt einbringen zu können, haben Kantone und Gemeinden Organisationen zur horizontalen Koordination gebildet. Auf kantonaler Ebene ist in der Sozialpolitik das wichtigste Gremium die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren und Sozialdirektorinnen (SODK). Die SODK vertritt die sozialpolitischen Anliegen der Kantone gegenüber Bund und Öffentlichkeit und übernimmt diverse Koordinations- sowie Verbundsaufgaben. Auch Verbände übernehmen wichtige Koordinationsfunktionen im föderalistischen Schweizer Sozialstaat. Auf gesamtschweizerischer Ebene zu nennen sind hier etwa die Städteinitiative Sozialpolitik, der städtische Gemeinden in der ganzen Schweiz angehören, oder die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, der natio­nale Fachverband für Sozialhilfe.

Neben der horizontalen Organisation ist auch die vertikale Koordination über verschiedene Ebenen anspruchsvoll. Mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) im Jahre 2008, gelang es, die unübersichtliche Kompetenzverteilung in verschiedenen Verbundaufgaben teilweise zu entflechten. Auch wenn damit eine Verbesserung erzielt werden konnte, bleibt die Koordination und Zusammenarbeit im föderalen Sozialstaat ein zentrales Thema im sozialpolitischen Diskurs. Ein oft gehörter Vorwurf betrifft die Abwälzung von Kosten von der einen Regierungsebene auf die andere. So wird zum Beispiel vermutet, dass die Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für IV-Renten oder die Begrenzung von Leistungen in der Arbeitslosenversicherung durch den Bund zu Mehrkosten bei Gemeinden und Kantonen führen. Ein anderes immer wieder und auf verschiedenen Ebenen diskutiertes Thema betrifft die Frage nach dem Ausgleich sozialer Lasten. Auf Bundesebene besteht seit dem neuen Finanzausgleich ein System zum Ausgleich der Soziallasten, das durch Beiträge des Bundes, aber auch durch ein Umverteilungssystem zwischen den Kantonen getragen wird. Innerhalb der Kantone wird dies unterschiedlich gehandhabt. In einigen Kantonen bestehen sehr weitgehende Systeme zum Ausgleich der Soziallasten zwischen den Gemeinden, in anderen nicht. Beides führt regelmässig zu politischen Vorstössen in den Kantonen.

Literaturhinweise

Armingeon, K., Bertozzi, F. & Bonoli, G. (2004). Swiss worlds of welfare. West European Politics, 27(1), 20–44.

Bonoli, G. & Champion, C. (2015). Federalism and welfare to work in Switzerland: the development of active social policies in a fragmented welfare state. Publius: The Journal of Federalism, 45(1), 77–98.

Vatter, A. (2016). Das politische System der Schweiz (Kapitel zu Föderalismus). Baden Baden: Nomos.

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