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Frauenbewegung

Kristina Schulz


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Frauenbewegung stellt einen kollektiven Handlungszusammenhang dar, in dem Gruppen, Organisationen und Individuen für Gleichheit und Anerkennung von Frauen in allen Teilbereichen der Gesellschaft eintreten.

Die Frauenbewegung hat eine starke historische Dimension. Den Hintergrund des Aufschwungs der Frauenbewegung in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jh. bildet in der Schweiz der Ausbau des Staates nach den Revisionen der Bundesverfassung von 1874 und 1891. Bund und Kantone übernehmen in der Folge vermehrt Aufgaben des Sozial- und Bildungswesens und sind auf Vermittler vor Ort angewiesen. Damit ist der Moment günstig, um sich in diejenigen sozialen Fragen einzumischen, die Frauen konkret betreffen, wie die Einführung eines eidgenössischen Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes. Innerhalb kurzer Zeit entstehen thematisch differenzierte Frauenvereine: Sittlichkeitsvereine, denen es um die Abschaffung der Prostitution und Jugendschutz geht; Bildungs- und Wohltätigkeitsvereine, die sich für die Ausbildung junger Frauen einsetzten und Frauen aus allen Bevölkerungsschichten in die Lage versetzen wollten, sich selbst zu versorgen; Berufsvereine (z. B. für Arbeiterinnen und Lehrerinnen), konfessionelle Frauenvereine sowie Frauenwahlrechtsvereine. 1900 entsteht als nationaler Dachverband der «Bund Schweizerischer Frauenvereine» (BSF).

Die im Rückblick so genannte erste Welle der Frauenbewegung ebbt in der Ära der Weltkriege ab. In den 1970er Jahren entstehen jedoch in den meisten Ländern der westlichen Welt – und in anderen Weltregionen – neue Frauenbewegungen («zweite Welle»), die Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der weiblichen Selbstverwirklichung und der Anerkennung von Differenz ansprechen. Im Zentrum steht auch in der Schweiz die Forderung nach der Entkriminalisierung des Schwangerschafts­abbruchs. Die Frauenbewegung trägt auch andere Anliegen voran, wie die juristische Ahndung von Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe, die Kompensation von Erwerbsausfall bei Mutterschaft oder die Durchsetzung von gleichem Lohn für gleiche Arbeit. Darüber hinaus geht es darum, Räume zu schaffen, in denen Sexualität und Solidarität unter Frauen thematisiert, Patriarchats- und Kapitalismuskritik geübt, Self-help und Selbsterfahrung stattfinden können.

Als «dritte Welle» wird die Ausweitung des Feminismus in den virtuellen Raum (Cyber­feminismus) sowie die Verankerung von Frauen­anliegen in nationalen und internationalen Rechtssystemen und Institutionen bezeichnet, Prozesse, die sich seit Mitte der 1980er Jahre vollziehen. Parallel prägt sich ein von vielfältigen Gruppierungen und Netzwerken getragenes feministisches Milieu heraus, in dem das Experimentieren mit neuen Lebens- und Protestformen eine wichtige Rolle spielt. Gemeinsame Anliegen sind die Anerkennung von Diversität, soziale Gleichheit und Gerechtigkeit sowie transnationale Solidarität.

Einige Kernfragen prägen die gesamte Geschichte der Frauenbewegung. Dazu gehört, erstens, der strittige Punkt, ob der Kampf für die Aufhebung von geschlechtsbedingter Diskriminierung auf der Grundlage der Annahme einer prinzipiellen Ähnlichkeit von Frauen und Männern oder aber im Namen des spezifisch Weiblichen zu führen sei. Während z. B. Teile der Frauenwahlrechtsbewegung um 1900 die prinzipielle Gleichheit aller Menschen ins Feld führen, verweisen andere auf die besonderen Fähigkeiten und den gesellschaftlichen Beitrag von Frauen, besonders Müttern. In den 1970er Jahren wird diese Diskussion in den Begriffen von «Gleichheit» und «Differenz» geführt.

Zweitens stellt sich für die Anhängerinnen der Frauenbewegung immer wieder die Frage der Allianz mit anderen gesellschaftlichen Gruppen. Als 1900 der BSF als Dachorganisation der schweizerischen Frauenorganisationen entsteht, ist die Teilnahme der Arbeiterin­nen­vereine umstritten. Geschlechts- und Klas­sen­zugehörigkeit als Grundlage für solida­ri­sches Handeln unter Frauen stehen auch später immer wieder neu zur Verhandlung. Ausser­dem werden vor allem seit den 1970er Jahren die Kategorien Ethnie und Rasse vermehrt diskutiert. Die Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, eine Veranstaltung weisser Mittelklassefrauen zu sein und die Bedürfnisse von anderen Frauen, zum Beispiel Migrantinnen oder schwarze Frauen, zu übergehen. Die Verschränkung unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen untersucht die Geschlechterforschung heute unter dem Stichwort der Intersektionalität.

Drittens steht die Thematik der Kooperation mit dem Institutionensystem vielfach zur Debatte, berührt sie doch strategische Positionierungen im Spannungsfeld von «Revolution» und «Reform», die Wahl der Formen politischer Intervention inbegriffen. Vor allem in den 1970er Jahren, in denen mit der Forderung nach straffreier Abtreibung eine Gesetzesänderung im Mittelpunkt des feministischen Engagements steht, ist man auf den parlamentarischen Weg und auf Bündnispartner angewiesen. So sind den Abstimmungen über die Einschreibung der Gleichheit in die Verfassung («Gleiche Rechte für Mann und Frau», angenommen 1981) und über eine Erwerbsersatzentschädigung bei Mutterschaft («Mutterschaftsversicherung», abgelehnt 1984, 1987, 1999, angenommen 2004) breit geführte Initiativkampagnen vorausgegangen, in denen die Frauenbewegung sich an die Regeln des politischen Spiels anpassen musste. Verbreitet ist darum eine zweigleisige Strategie, die einerseits den Ausbau von möglichst autonomen feministischen Gegeninstitutionen, andererseits einen «Weg durch die Institutionen» vorsieht. Bestes Beispiel dafür sind die behördlich sanktionierten Gleichstellungsbüros, die zumindest in der Gründungsphase Ende der 1970er und in den 1980er Jahren vielerorts mit Personen besetzt worden sind, die aus dem Umfeld der Frauenbewegung kommen und versuchen, feministische Forderungen in behördliches Handeln zu übersetzen.

Eine Sonderstellung nimmt die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg in Bezug auf das Frauenstimm- und Wahlrecht ein. Unterscheidet die politische Situation von Frauen sich vor dem Ersten Weltkrieg kaum von der in anderen Ländern, wird die Auslegung des allgemeinen Wahlrechts als Männerwahlrecht in den Nachkriegsjahrzehnten unter den demokratisch verfassten Staaten zum Alleinstellungsmerkmal. Erst 1990 erledigt sich das Anliegen der Frauenwahlrechtsbewegung, als der Halbkanton Appenzell Innerrhoden auf Intervention des Bundesgerichts als letzter Landesteil das kantonale Frauenstimmrecht einführt. Aufgrund des Systems politischer Aushandlung werden auch andere Forderungen der Frauenbewegung in der Schweiz vergleichsweise spät erfüllt (Mutterschaftsversicherung, liberalisierter Schwangerschaftsabbruch) oder stehen noch heute aus. Letzteres betrifft insbesondere Fragen der sozialen Sicherung (z. B. Rentenansprüche) und des Steuerrechts.

Die Anliegen der Frauenbewegung sind weder erledigt, noch hat die grundsätzliche Bereitschaft zu feministischen Engagement abgenommen. Die Ansatzpunkte gesellschaftlicher Veränderung sind so vielfältig wie die Schauplätze feministischen Denken und Handelns. Herausforderungen ergeben sich bei der Koordination zwischen Akteurinnen, die in Begriffen von generationeller Erfahrung, Lebens- und Erwerbssituation, sexueller Orientierung, Professionalisierungsgrad und politischer Ausrichtung heterogen sind und unterschiedliche Wege und Ziele von sozialem Wandel verfolgen. Als schwierig erweist sich ebenfalls die praktische Umsetzung von Gleichheitsansprüchen, etwa bei der Aufhebung des Lohn- und Renten-Gaps zwischen Männern und Frauen. Auch theoretisch ist der Feminismus herausgefordert, sich in aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten neu zu positionieren. Ehemals progressive Forderungen erscheinen unter den Bedingungen neoliberaler Umgestaltung und globaler Arbeitsteilung in einem neuen Licht. In die zunächst unumstrittene feministische Forderung nach reproduktiver Selbstbestimmung («Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine») mischen sich beispielsweise angesichts neuer reproduktionsmedizinischer Möglichkeiten, besonders der Leihmutterschaft, kritische Stimmen aus den eigenen Reihen.

Literaturhinweise

Schulz, K. (Ed.) (2017). The women’s liberation movement: impacts and outcomes. New York: Berghahn.

Schulz, K., Schmitter, L. & Kiani, S. (2014). Frauenbewegung. Die Schweiz seit 1968: Analysen, Dokumente, Archive. Baden: Hier und Jetzt.

Villiger, C. (2009). «Notre ventre, leur loi!»: Le mouvement de libération des femmes de Genève. Neuchâtel: Alphil.

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