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Frühkindliche Bildung

Sacha Neumann, Marina Wetzel


Erstveröffentlicht: December 2020

Im deutschen Sprachraum ist «frühkindliche Bildung» der Ausdruck des international gebräuchlichen Terminus early childhood education. Sie umfasst die Altersspanne ab der Geburt bis zum Schuleintritt und bezieht sich auf institutionelle Arrangements, zu denen Kindertageseinrichtungen (Kitas), Tages­eltern und Spielgruppen gehören. Diese Angebote sind vom Kindergarten zu unterscheiden, der in der Schweiz im Alter zwischen 4 und 6 ­Jahren beginnt und zum Schulsystem gehört. Programmatisch geht es in der Debatte um frühkindliche Bildung darum, möglichst alle Kontexte des Aufwachsens auf das Ziel der Förderung und des Lernens von Kindern einzustellen. Zentral ist dabei der umfassende Anspruch: Frühkindliche Bildung bezieht sich auf die kognitive, soziale, emotionale, körperliche und moralische Entwicklung von Kindern.

Die ideengeschichtlichen Wurzeln des Nachdenkens über die Möglichkeiten frühkindlicher Bildung lassen sich seit der frühen Neuzeit etwa in den Werken von Comenius, ­Rousseau, Pestalozzi oder Montessori finden. Ein international viel beachteter institutioneller Anfang der Praxis frühkindlicher Bildung stellt 1840 die Gründung des ersten deutschen «Kinder-Gartens» durch Fröbel dar. Mit der Devise, potenziell allen Kindern eine altersangemessene Förderung ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten zukommen zu lassen, weist das Anliegen des ersten Kinder-Gartens schon damals weit über die Aufgabe der Schulvorbereitung hinaus. Das Grundprinzip frühkindlicher Bildung besteht in der Idee, Kindern die Ausbildung ihrer Fähigkeiten mit Hilfe einer vorgängig strukturierten, anregenden und herausfordernden räumlichen, materiellen, sozialen und kulturellen Erfahrungswelt zu ­ermöglichen.

In sozialgeschichtlicher Hinsicht wird frühkindliche Bildung in der Schweiz seit den späten 1960er Jahren vorwiegend indirekt thematisiert. Seit der Jahrtausendwende ist ihre Relevanz jedoch unmittelbarer in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Zu den Hintergründen gehören der gesellschaftliche Wandel, der zu neuen Rollenverständnissen in der Familie sowie zu einer wachsenden Erwerbstätigkeit von Frauen und einem damit einhergehenden Bedarf an familienergänzender Kinderbetreuung geführt hat. Auch haben bildungsökonomische Erkenntnisse seither verdeutlicht, dass sich Investitionen in die Infrastruktur frühkindlicher Bildung zukünftig in volkswirtschaftlichen Renditen niederschlagen. Des Weiteren weisen nunmehr Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien zur Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme einzelner Länder (PISA usw.) regelmässig auf die Bedeutung der frühen Lebensphase für die spätere Bildungslaufbahn und für den Ausgleich herkunftsbedingter Benachteiligungen hin. Schliesslich hat das verstärkte Engagement supranationaler Organisationen wie OECD, Weltbank, usw. und deren Empfehlungen für die jeweilige nationale Ausgestaltung der frühkindlichen Bildung in vielen Staaten Bemühungen um den Ausbau, die Curricularisierung und die qualitative Weiterentwicklung des Angebots nach sich ­gezogen.

Obschon die internationale Entwicklung die Debatte um frühkindliche Bildung in der Schweiz wesentlich beeinflusst hat, sind die daraus resultierenden Konsequenzen auf der politisch-rechtlichen Ebene weitgehend ausgeblieben. So gibt es in der Schweiz aufgrund der noch lückenhaften Versorgung mit Betreuungsplätzen und des fehlenden Rechtsanspruchs keinen allgemeinen Zugang zu frühkindlichen Bildungseinrichtungen. Auch gibt es kein bundesweit verbindliches Fachgesetz, das über Mindeststandards hinaus Grundsätze für die pädagogische Arbeit formuliert. Zwar definiert auf Bundesebene die PAVO (Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern) rechtliche Bedingungen für die Bewilligung und Aufsicht der Angebote der familienexternen Kinderbetreuung. Darüber hinaus jedoch besitzt der Bund keine gesetzgeberische Verantwortung und Kompetenz. Entsprechend sind die politischen Möglichkeiten zur Steuerung der institutionellen Angebote frühkindlicher Bildung auf nationaler Ebene eingeschränkt. Die fehlende Verbindlichkeit in der inhaltlichen Ausrichtung des Sektors spiegelt sich in der Heterogenität der Trägerlandschaft wider: Öffentlich verantworteten Angeboten stehen private Non-Profit-Organisationen, Betriebskitas und eine hohe Anzahl an kommerziellen Einrichtungen gegenüber.

Verglichen mit anderen westeuropäischen Staaten ist die Schweiz bezüglich der Entwicklungen im Frühbereich ein latecomer. Zudem zählt sie bei den Investitionen in den Frühbereich nach wie vor zu den schwächeren OECD-Ländern (2012: 0,25 % des BIP). Ferner unterscheidet sie sich von anderen europäischen Ländern bei der Inanspruchnahme von formellen frühkindlichen Bildungsangeboten. Zwar liegt die Schweiz 2016 mit einer Besuchsquote von etwa 41 % bei Kindern von 0 bis 3 Jahren über dem EU-Durchschnitt, jedoch ist die Zeit, die Kinder in Kitas durchschnittlich verbringen mit knapp 18 Stunden pro Woche deutlich niedriger. Auffällig ist zudem die lokal stark differierende Besuchs- und Versorgungsquote. Hier zeigen sich ein Stadt-Land-Gefälle und ein Gefälle zwischen den Sprachregionen: Formelle frühkindliche Bildungsangebote sind häufiger in der Stadt und häufiger in der Romandie anzutreffen und werden dort auch entsprechend öfter in Anspruch genommen.

In der Schweiz steht die Debatte um die Bedeutung frühkindlicher Bildung immer noch im Schatten arbeitsmarktökonomischer Erwägungen. Daneben spielen aber auch migrations- und integrationspolitische Aspekte eine Rolle, weil der frühkindlichen Bildung zugetraut wird, besonders bei Kindern aus fremdsprachigen Elternhäusern und aus sozioökonomisch benachteiligten Familien eine kompensatorische Wirkung im Hinblick auf deren Bildungschancen zu entfalten. Von 2003–2017 verzeichnete die Schweiz – u. a. bedingt durch Finanzhilfen des Bundes für familienergänzende Kinderbetreuung (SR 861; 353 Mio. Franken) – einen beträchtlichen Ausbau der Platzzahlen (31 078 neue Kitaplätze; Stand: 31.12.16), so dass die familienexterne Kinderbetreuung zu einem bedeutenden Sozialisationsfeld für Kinder im Vorschulalter geworden ist. Ferner gab es fachliche Initiativen, die einen Strukturwandel der Kinderbetreuung hin zu einer Ausrichtung auf ihre Bildungsfunktion anzeigen. Zu erwähnen sind die von zivilgesellschaftlichen Akteuren getragenen Bemühungen um eine qualitative Weiterentwicklung, wie etwa der «Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz» oder der Qualitätsstandard «QualiKita». Da diese Instrumente aber nicht gesetzlich verankert oder verbindlich sind, bleibt fraglich, inwieweit sie bildungsbezogene Massstäbe im Feld etablieren können. Neben der Verankerung des Bildungsgedankens besteht in sozialpolitischer Hinsicht die grösste Herausforderung darin, einen universellen Zugang zu frühkindlichen Bildungseinrichtungen zu schaffen. Das berührt zum einen die Frage der Kosten für die Eltern, die in der Schweiz sehr hoch sind. Eltern werden bei nicht subventionierten Betreuungsplätzen mit Beiträgen von 120–150 Franken pro Tag und Kind konfrontiert. Zum anderen ist damit die Frage aufgeworfen, inwieweit sich gesellschaftspolitisch der Gedanke durchsetzen kann, dass Bildung und Betreuung in der frühen Kindheit nicht nur eine privat-familiale Aufgabe darstellen, sondern ein öffentliches Gut sind, auf das Kinder und Eltern einen Anspruch haben.

Literaturhinweise

Burger, K., Neumann, S. & Brandenberg, K. (2017). Studien zur frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz: Eine Bestandsaufnahme erstellt im Auftrag der Jacobs Foundation. https://jacobsfoundation.org/app/uploads/2017/07/JF_Whitepaper_FBBE_lang_deu.pdf

Kibesuisse & Jacobs Foundation (Hrsg.) (2014). Qualikita-Handbuch: Standard des Qualitätslabels für Kindertagesstätten (2. Aufll.). https://www.quali-kita.ch/

Wustmann Seiler, C. & Simoni, H. (2012). Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz (2. Aufl.). Bern: Schweizerische UNESCO-Kommission.

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