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Gemeingut

Peter Streckeisen


Erstveröffentlicht: December 2020

Gemeingüter zeichnen sich dadurch aus, dass sie für alle Nutzerinnen und Nutzer frei oder zu einem Preis, der weit unter den tatsächlichen Kosten liegt, zugänglich sind. Gewisse Gemeingüter sind von Natur aus vorhanden (z. B. Luft und Wasser), andere werden durch je spezifische Akteure angeboten. Bei diesen handelt es sich oft um staatliche Institutionen, aber auch um zivilgesellschaftliche Organisationen und lokale Gemeinschaften. Die Bereitstellung von Gemeingütern orientiert sich an einer Logik des Allgemeinwohls, die im Gegensatz zur Verfolgung wirtschaftlicher oder anderer Partikularinteressen steht. In einer Gesellschaft, die das private Eigentumsrecht und die Maximierung wirtschaftlicher Gewinne in den Rang legitimer oder vorherrschender Normen erhebt, erscheinen Gemeingüter als Ausnahme von der Regel und sind oft in ihrer Existenz bedroht. So ist zum Beispiel die unentgeltliche oder günstige Versorgung der Menschen mit Trinkwasser heute an zahlreichen Orten durch Gewässerverschmutzung oder Privatisierung von Quellen in Frage gestellt.

In den Wirtschaftswissenschaften werden verschiedene Arten von Gemeingütern unterschieden. Als Unterscheidungskriterien gelten die (Nicht-)Ausschliessbarkeit und (Nicht-)Rivalität des Konsums. Nichtausschliessbarkeit bedeutet, dass niemand an der Nutzung des Guts gehindert werden kann. Nichtrivalität bedeutet, dass die Nutzung des Guts durch eine Person dessen Nutzung durch eine andere Person nicht beeinträchtigt. Gemeingüter, auf welche beide Kriterien zutreffen, werden als öffentliche Güter bezeichnet. Luft gilt als öffentliches Gut, weil niemand daran gehindert werden kann, sie einzuatmen, und weil das Atmen einer Person die Nutzung des Guts durch andere Personen nicht beeinträchtigt. Ein anderes Beispiel wäre Strassenbeleuchtung: Ihre Nutzung ist für alle frei zugänglich, und es gibt keine Einschränkung der Nichtrivalität. Im Gegensatz dazu sind der Nutzung einer Strasse Grenzen auferlegt: Drängen sich zu viele Autos gleichzeitig hinein, kommt es zum Stau. Beim Fernsehen ist Nichtrivalität des Konsums gegeben, Nichtausschliessbarkeit aber nicht, denn es ist ohne weiteres möglich, Zuschauerinnen und Zuschauer auszuschliessen (z. B. durch Pay TV).

Die Eigenschaften verschiedener Güter sind aber nicht einfach gegeben, sondern abhängig von kulturellen Normen und politischen Entscheidungen. Im schweizerischen Bildungssystem zum Beispiel gilt die Volksschulbildung als Gemeingut: Sie ist unentgeltlich und allen Gruppen der Bevölkerung zugänglich. Im Gegensatz dazu übernimmt der Staat nur begrenzt Verantwortung für weiterführende Ausbildungen. Die berufliche Ausbildung ist vom Angebot privater Akteure abhängig, und der Zugang zur tertiären Bildung ist hochgradig selektiv gestaltet, auch wenn an den öffentlichen Hochschulen die Studierenden nur einen Teil der anfallenden Kosten selbst tragen müssen.

Die Unterscheidung verschiedener Güter in der ökonomischen Theorie erweist sich heute als einflussreiches Raster für politische Diskussionen und Entscheidungen. Die restriktive Definition der öffentlichen Güter (Nichtausschliessbarkeit und Nichtrivalität) öffnet ein sehr weites Feld für marktwirtschaftliche Lösungen in der Bereitstellung von Gemeingütern. Ein einflussreiches Beispiel für diesen Zusammenhang zwischen Theorie und Politik stellt die so genannte Tragödie der Allmende dar. Der Begriff stammt von dem englischen Ökonomen W. F. Lloyd (1794–1852) und wurde 1968 in einem Aufsatz des US-amerikanischen Ökologen und Philosophen G. Hardin (1915–2003) neu thematisiert. Wenn eine Schafweide von allen Hirten mit ihrer Herde genutzt werden kann, so die Argumentation, komme es zu deren Übernutzung, und am Ende gebe es nur Verlierer. Die Tragödie der Allmende wurde und wird oft als Begründung für die Privatisierung natürlicher Ressourcen oder für die Begrenzung sozialstaatlicher Leistungen ins Feld geführt. Diese Sicht unterstellt jedoch, dass Menschen von Natur aus dazu neigen, ihre Partikularinteressen über das Gemeinwohl zu stellen, und nicht fähig sind, die Nutzung von Gütern im gemeinsamen Interesse zu regeln. Selbst in den Wirtschaftswissenschaften wird das Theorem vermehrt kritisiert. So plädiert etwa E. Ostrom, Wirtschaftsnobelpreisträgerin im Jahr 2009, für gemeinschaftliche Lösungen als Mittelweg zwischen Markt und Staat. Lokale Gemeinschaften sind ihr zu Folge oft in der Lage, Mechanismen der sozialen Kooperation und Kontrolle zu erfinden, die einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen sichern.

Gemeingüter sind für die Sozialpolitik von grosser Bedeutung. Sie können sozialen Zusammenhalt und Identität stiften. Bei der Definition von Armutsgrenzen und bedarfsabhängigen Sozialleistungen spielt das Angebot an Gemeingütern ebenfalls eine wesentliche Rolle. Während zum Beispiel im National ­Health Service Grossbritanniens der Staat die Kosten der Gesundheitsversorgung vollständig übernimmt, tragen in der Schweiz die Patientinnen und Patienten einen sehr grossen Teil davon selbst, obwohl eine obligatorische Krankenversicherung existiert. Die Sozialhilfe übernimmt Krankenkassenprämien und Gesundheitsausgaben, und zahlreiche Familien haben Anspruch auf Prämienverbilligung. Das auf private Versicherungsträger und Eigenverantwortung setzende Modell der Krankenversicherung führt damit zu höheren Sozialausgaben. In anderen Bereichen der Sozialpolitik baut der Staat seine Angebote aus, weil private oder zivilgesellschaftliche Akteure sich aus der Bereitstellung von Gemeingütern zurückziehen. Dies gilt heute etwa für die Bereiche der Kinderbetreuung und Altenpflege (siehe ­Care-Ökonomie).

Länder mit liberaler Sozialstaatstradition wie die Schweiz neigen seit jeher dazu, private Akteure als Anbieter von Gemeingütern zu fördern. Im Kontext des Neoliberalismus sind auch anderswo so genannte Wohlfahrtsmärkte entstanden. Die oft geäusserte Behauptung, es komme nicht darauf an, ob Gemeingüter von staatlichen oder privaten Akteuren angeboten werden, ist allerdings umstritten. So zeigt etwa D. Hevenstone, wie die Marktorientierung der Sozialpolitik in den USA immer wieder dazu führt, dass politische Ziele verfehlt werden. In der Schweiz sind die Kranken- und Pensionskassen als zentrale private Akteure der Sozialpolitik zu nennen, und auch hier zu Lande werden die Widersprüche zwischen deren Partikularinteressen und der politisch gewollten Gemeinwohlorientierung kontrovers diskutiert. Die Umwandlung der staatlichen Regiebetriebe für Post, Telekommunikation und Eisenbahn in marktorientierte Unternehmen seit den 1990er Jahren hat zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen um den Begriff des Service Public geführt. In dem Zusammenhang wurde das Konzept des Universaldienstes eingeführt, um eine Grenze zwischen der gemeinwohlorientierten Grundversorgung und den darüber hinaus gehenden, gewinnorientierten Angeboten zu ziehen.

Staatliche Sozialleistungen lassen sich nicht einfach pauschal als Gemeingüter betrachten. Ihr Bezug ist oft an restriktive Berechtigungsbedingungen geknüpft, verlangt Gegenleistungen oder unterliegt Sanktionsmöglichkeiten. Im Zeitalter der aktivierenden Sozialpolitik setzt sich das Menschenbild des Homo oeconomicus durch, der nur durch eine Mischung aus ökonomischen Anreizen und Sanktionen in die gewünschte Richtung gelenkt werden kann. Aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht gibt es gute Gründe, in Bezug auf die Fähigkeiten der Menschen, gemeinwohlorientiert zu handeln, optimistischer zu sein. Wenn die menschliche Natur wesentlich gesellschaftlich geprägt ist, so zählt es zu den Hauptaufgaben einer guten Sozialpolitik, gesellschaftliche Verhältnisse zu fördern, auf deren Basis Menschen von selbst dazu neigen, sich gemeinwohlorientiert zu verhalten. Diese Perspektive hat der Soziologe P. Bourdieu (1930–2002) als Real­politik der Vernunft bezeichnet.

Literaturhinweise

Helfrich, S. & Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) (2014). Commons: Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (2. Aufl.). Bielefeld: transcript.

Hevenstone, D. (2015). The American myth of markets in social policy: ideological roots of inequality. Basingstoke: Palgrave Macmillan.

Petrella, R. (1999). Le manifeste de l’eau: pour un contrat mondial. Lausanne: Éd. Page deux.

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