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Genderspezifische Gewalt

Marylène Lieber

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die genderspezifische Gewalt umfasst eine Vielzahl von Handlungen psychischer, physischer oder sexueller Natur, mittels derer Verletzungen der Geschlechterordnung und die strukturellen Dimensionen der Macht in den Geschlechterbeziehungen erkannt werden. In dieser Sicht umfasst genderspezifische Gewalt nicht nur Gewalt gegen Frauen, sondern auch Gewalt gegen LGBT-Personen oder gegen Männer, die sich nicht an die geschlechtsspezifischen Erwartungen halten. Dieselben Normen implizieren umgekehrt, dass Männer gewaltfähiger sind, was die Anwendung von Gewalt oder Zwang durch Frauen weniger akzeptierbar, aber auch weniger leicht erkennbar macht.

Derartige Formen von Gewalt gibt es seit jeher, doch erst die feministischen Bewegungen haben ihre Anerkennung und theoretische Aufarbeitung eingeleitet und aufgezeigt, welch grosser Anteil von Frauen unter der Gewalt eines Vaters, Verwandten, Ehemanns oder Kollegen leidet. Als die Frauenbewegungen ab den 1970er Jahren eine öffentliche Diskussion erzwan­gen, prangerten sie die Tatsache an, dass diese Art von Brutalität allzu oft als eine private oder individuelle Angelegenheit angesehen wird. Damit zeigten sie auf theoretischer Ebene die Zusammenhänge zwischen häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen auf, wobei sie diese verschiedenen Formen explizit als ein Kontinuum verstanden. Diese Sichtweise ermöglicht es heute, die Analyse in den Bereich politischer und militärischer Machtausübung auszuweiten, wo Bürgerkriege und internationale Interventionen von spezifischer Gewalt begleitet werden: Massenvergewaltigungen, Zwangsprostitution, Zwangsschwangerschaften, Zwangssterilisationen usw.

Dank der feministischen Mobilisierungen wurde «Gewalt gegen Frauen» zu einem Bereich für staatliche Massnahmen und institutionalisierte Formen der Prävention und Bestrafung, die sich hauptsächlich auf den Schutz von Frauen beziehen. Denn quantitative Studien in der Gesamtbevölkerung haben frühere Analysen feministischer Aktivistinnen bestätigt, indem sie nachwiesen, dass Frauen häufig Opfer von Männern in ihrem Bekanntenkreis werden. Auch in der Schweiz steht die Gewalt in Paarbeziehungen im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, wobei die Besonderheit der Schweiz zweifellos darin besteht, das innerfamiliäre Gleichgewicht besonders stark – und je nach Kanton unterschiedlich – zu fördern.

Um die Aktionsplattform der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking (1999) umzusetzen, hat die Schweiz einen Aktionsplan verfasst, der eine ganze Reihe von institutionellen, legis­lativen und präventiven Massnahmen umfasst, unter anderem die 2003 erfolgte Schaffung ­einer dem «Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann» angeschlos­senen Fachstelle für häusliche Gewalt, die heute als «Fachbereich Häusliche Gewalt» tätig ist. Diese Stelle ist für die Information der Öffentlichkeit zuständig und vertritt ein Konzept, das sich auf die Prävention (Prävention durch Koordinierung von Sozialdiensten, Schulen, Polizei, Spitälern und Behörden) und die Qualität der Beratung konzentriert. Seit 2008 koordiniert sie auch die kantonalen Interventionsstellen, die für die Innerschweiz in der «Zentralschweizer Fachgruppe häusliche Gewalt», für die übrige Deutschschweiz in der «Konferenz der kantonalen Interventions- und Fachstellen gegen häusliche Gewalt der deutschen Schweiz» und für die Westschweiz und das Tessin in der «Konferenz gegen häusliche Gewalt der lateinischen Schweiz» zusammengeschlossen sind. Die institutionelle Landschaft in der Schweiz ist relativ komplex, da ­diverse Organe nebeneinander bestehen. Für die Opfer ist es oft nicht einfach, mit einer Vielzahl von institutionellen Akteuren konfrontiert zu sein. Zu den weiteren Akteuren gehören unter anderem die Schweizerische Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten, die Schweizerische Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz (SVK-OHG), die Dachorganisation der Frauenhäuser der Schweiz und Liechtensteins (DAO), die Opferverbände, die Vereinigungen für gewalttätige Frauen oder Männer, die Ärzteschaft, das Justizpersonal sowie Fachkräfte im Bildungsbereich.

Der Begriff «häusliche Gewalt» hat mittlerweile praktisch überall die frühere Bezeichnung «Gewalt in der Ehe» abgelöst, obschon dadurch eine Vermischung der verschiedenen Typen von Gewalt (zwischen Erwachsenen, gegen Kinder, Jugendliche, Grosseltern, Behinderte usw.) und Täterschaften (Beziehungspartner, Eltern, Kinder) droht. Dieser Umbenennungsprozess wird von Kontroversen und Debatten begleitet und unterstreicht die familialistischen Tendenzen, welche die Schweiz von anderen Ländern unterscheiden. Einige Verbände widersetzen sich der Umbenennung, weil diese nach ihrer Ansicht den Genderaspekt nicht berücksichtigt.

In rechtlicher Hinsicht unterliegt die genderspezifische Gewalt unterschiedlichen Gesetzen, je nachdem, in welchem Rahmen sie ausgeübt wird. Innerhalb der Familie wird häusliche Gewalt durch das Schweizerische Strafgesetzbuch geahndet (Art. 123 für die Bestrafung von Körperverletzungen, Art. 126 für wiederholte Tätlichkeiten und Art. 180 für Drohungen). Seit 2004 wird häusliche Gewalt von Amts wegen verfolgt und betrifft alle PartnerInnen, ob heterosexuell oder homosexuell, verheiratet, in eingetragener Partnerschaft oder in rein emotionaler Beziehung. Zudem können die Zivilgerichte seit dem Inkrafttreten der Schutzbestimmung gegen Gewalt (Art. 28b des Zivilgesetzbuches) im Jahr 2007 die gewalttätige Person aus der Wohnung ausweisen und ihr die Annäherung an das Opfer sowie die Kontaktaufnahme verbieten. Vergewaltigung in der Ehe wird seit 1992 strafrechtlich verfolgt (Art. 190 StGB). Zunächst galt die Vergewaltigung zwischen Ehegatten noch als Antragsdelikt, doch seit 2004 wird sie von Amtes wegen verfolgt. Diese Änderung liess sich im Parlament nur gegen erheblichen Widerstand durchsetzen, was die starken Bedenken aufzeigte, die «heiligen Banden der Ehe» nicht zu gefährden. Parallel zu diesen wichtigen Reformen auf Bundesebene haben mehrere Kantone spezifische Gesetze und Massnahmen gegen häusliche Gewalt erlassen (insbesondere Genf 2005, Zürich 2007 und Waadt 2009).

Vergewaltigung und sexuelle Nötigung sind auch im öffentlichen Bereich Gegenstand zweier gesonderter Artikel des Strafgesetzbuches. Dieses unterscheidet, als schweizerische Besonderheit, zwischen der Vergewaltigung mit vaginaler Penetration (also nur bei Frauen, Art. 190) und der sexuellen Nötigung (Art. 189). In der Arbeitswelt wird sexuelle Belästigung durch das Obligationenrecht im Rahmen des Persönlichkeitsschutzes (Art. 328) und seit 1995 im Gleichstellungsgesetz (Art. 4) als Diskriminierung erfasst. Seit den 1990er Jahren haben europäische und weltweite Normen zu mehreren Gesetzesänderungen geführt, darunter 1993 zur Einführung des Opferhilfegesetzes (OHG), das den rechtlichen Schutz der Opfer und die Einrichtung von Beratungsstellen in den Kantonen regelt. In jüngster Zeit hat sich der Kreis der durch das Bundesgesetz geschützten Personen auf weitere Formen der Gewalt ausgeweitet, so in der Strafnorm gegen die Verstümmelung von weiblichen Genitalien (Art. 124 StGB, in Kraft seit 2012) und im Bundesgesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten (2013).

Diese Verschiebung der Gesetzgebung zu Praktiken, die als kulturell bedingt betrachtet werden, zeigt deutlich auf, dass eine Vielzahl von Machtverhältnissen in der genderspezifischen Gewalt zusammenläuft. Die Beschäftigung mit der Gewalt gegen Frauen hat zweifellos dazu beigetragen, dass Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung besser anerkannt werden und dass Praktiken und Mechanismen nun als politisch eingestuft werden, die allzu lange als rein privat galten. Doch die postkoloniale Kritik stellt heute den universalen Anspruch infrage, der im Zentrum des westlichen feministischen Projekts steht. Die Forderungen und Bestrebungen rund um das Thema Gewalt sind nicht nur bezeichnend für eine Form von Naturalisierung der Frauen, die angeblich als verletzliche Wesen besonderen Schutz benötigen, sondern tendieren vor allem dazu, die Vielfalt weiblicher Erfahrungen, die durch verschiedenartige Machtverhältnisse geprägt sind, einzuebnen.

Literaturhinweise

Abu-Lughod, L. (2013). Do muslim women need saving. Cambridge: Havard University Press.

Gillioz, L., De Puy, J. & Ducret, V. (1997). Domination et violence envers la femme dans le couple. Lausanne: Payot.

Hanmer, J. & Maynard, M. (Eds.) (1987). Women, violence and social control. Basingstoke: Macmillan Press.

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