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Generationengerechtigkeit

Philippe Wanner

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Seit mehreren Jahrzehnten hat das Generationenkonzept an Bedeutung gewonnen und sich in den Sozialwissenschaften durchgesetzt. Die Analyse von sozialen Phänomenen veränderte sich dementsprechend. Neue Fragen rückten in den Mittelpunkt: Wie steht es um den Austausch oder die Beziehungen zwischen gleichzeitig lebenden Generationen und in welchem Masse ist Gerechtigkeit für diesen Austausch kennzeichnend?

Vorab ist zu erwähnen, dass der Begriff der Generation verschiedene Bedeutungen haben kann. Er kann in Abhängigkeit des Lebensstadiums (Kind, Jugendlicher, Erwachsener usw.), der Stellung innerhalb der Familie (Grosseltern, Eltern, Kind usw.), aber auch der biografischen Merkmale (Silent Generation, Babyboom-Generation, verlorene Generation) definiert werden. Bei jeder dieser Definitionen ist nicht vollständig klar, wie die verschiedenen Generationen voneinander abgegrenzt werden. Dies gestaltet die Analyse der Generationengerechtigkeit noch komplexer.

Die Familiensoziologie hat sich in den letzten Jahren häufig mit den Beziehungen zwischen den Generationen auseinandergesetzt und ist zum Schluss gekommen, dass diese für die Familie und die Gesellschaft zwar eminent wichtig, jedoch nur schwer messbar sind. Der Grundsatz der Generationengerechtigkeit – jede Generation erhält so viel, wie sie den anderen Generationen gibt – sorgt mangels einer klaren Einschätzung der Situation daher für zahlreiche Spekulationen und Fragen.

Der Austausch zwischen den Generationen bildet das Fundament einer gut funktionierenden Gesellschaft: Er kann sowohl innerhalb (Pflege der betagten Eltern, Betreuung von Kleinkindern usw.) als auch ausserhalb der Familie stattfinden (beispielsweise am Arbeitsplatz oder in der Freizeit). Er kann verschiedene Formen annehmen (Ausbildung, soziale Unterstützung, punktuelle oder regelmässige praktische Hilfe, aber auch finanzielle Transfers). Sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Familie kommt dem Grundsatz der Gerechtigkeit grosse Bedeutung zu, damit der implizite Generationenvertrag nicht gebrochen wird. Es ist es jedoch schwierig, die nicht-finanzielle Unterstützung zu beziffern und zu überprüfen, ob der Grundsatz der Generationengerechtigkeit, der sicherstellt, dass es zwischen den Generationen nicht zu Konflikten kommt, Anwendung findet.

Die Generationengerechtigkeit deckt ver­-schie­dene Bereiche ab, die sowohl in Zusammenhang mit den Wirtschafts- und Sozial­wissenschaften, als auch mit den Umwelt­wissenschaften stehen. Seit dem Gipfel von Rio 1992 ist sie auch in die Debatte über die nachhaltige Entwicklung eingeflossen. In diesem Zusammenhang bedeutet Gerechtigkeit, dass künftigen Generationen kein durch unser schädliches Umweltverhalten belastetes Erbe hinterlassen wird.

Die finanzielle Analyse der Generationengerechtigkeit wurde in den 1990er Jahren insbesondere in den Vereinigten Staaten entwickelt. Das Ziel von Generationenbilanzen ist es, die finanzielle Belastung der verschiedenen Generationen in den öffentlichen Ausgaben zu messen und diese Belastungen mit den Beiträgen der Generation – entrichtete Steuern oder Beitragszahlungen – in eine Beziehung zu setzen. Diese Berechnungen, die in der Regel auf zahlreichen Hypothesen und Spekulationen bezüglich der Zukunft beruhen, stellen die Bilanzierung jeder Generation dar. Diese wird gemäss der impliziten Hypothese interpretiert, nach der ein Staat langfristig ein ausgeglichenes Budget auszuweisen habe und daher seine Schulden nicht vergrössern dürfe. So hat die im Jahr 2001 in der Schweiz erstmals erstellte Generationenbilanz beispielsweise gezeigt, dass die im Jahr 2001 geborene Generation im Laufe ihres Lebens mehr Transferzahlungen vom Staat erhalten sollte als sie Steuern und weitere Beiträgen einzahlen werden, und zwar einen Betrag von 102 000 Franken (Wert 2001) mehr. Im Jahr 2014 erstellte die UBS in Zusammenarbeit mit dem Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg im Breisgau erneut eine Generationenbilanz für die Schweiz. Die Ergebnisse bestätigen, dass die Nachhaltigkeit der öffentlichen Haushalte aufgrund des Missverhältnisses zwischen den ausbezahlten Leistungen und den eingenommenen Beiträgen beziehungsweise den erhobenen Steuern für die verschiedenen Generationen nicht gewährleistet ist. Insbesondere die 1. Säule der Altersvorsorge erzeugt eine wachsende implizite Verschuldung, die aus den staatlichen Verpflichtungen gegenüber den künftigen, immer länger lebenden Rentnerinnen und Rentnern erwächst.

Im Bereich der Sozialen Sicherheit und im weiteren Sinne in Bezug auf die öffentlichen Haushalte verweist der Grundsatz der Generationengerechtigkeit aus finanzieller Sicht auf den Begriff der generationenübergreifenden Gerechtigkeit. Im Bereich der Sozialen Sicherheit besteht Gerechtigkeit, wenn jede Generation ihre eigenen Ressourcen und Opportunitäten verwendet (häufig zeitlich versetzt, wie dies beim Kapitaldeckungsverfahren der 2. und 3. Säule der Fall ist), ohne auf die Ressourcen der nachfolgenden Generationen zurückzugreifen, zumindest nicht auf die Ressourcen finanzieller Natur. Im Bereich der öffentlichen Haushalte besteht Gerechtigkeit, wenn die lebenden Generationen den kommenden Generationen nicht zu grosse Schulden hinterlassen, da diese dann die Anleihen der vorangehenden Generationen zurückzahlen müssten. Nach diesem Grundsatz ist die Verschuldung der öffentlichen Haushalte problematisch, da ihre Folgen als Erbschaft an die kommenden Generationen weitergegeben werden.

Solche Berechnungsansätze sind jedoch mit Vorsicht zu geniessen, da sie zahlreichen methodologischen Einschränkungen unterliegen. Das Konzept der Generationengerechtigkeit ist klar, seine empirische Anwendung bleibt jedoch weiterhin komplex und es stellen sich viele Fragen. Es ist nicht immer einfach, die öffentlichen Ausgaben den verschiedenen Generationen korrekt zuzuordnen (bestimmte Ausgaben werden von der Gemeinschaft verursacht). Die prospektive Berechnung erfordert prospektive Hypothesen, welche die Unsicherheit in Bezug auf die Ergebnisse erhöhen. Die grösste Einschränkung liegt jedoch im Umstand, dass sich der Austausch zwischen den Generationen nicht auf die öffentlichen Ausgaben beschränkt, sondern auch ein enormes Mass an privatem Austausch umfasst, der nicht messbar ist. Unabhängig davon hat sich die Generationengerechtigkeit in vieler Hinsicht verdient gemacht. Erstens liefert sie empirische Erkenntnisse im Hinblick auf ein Verhalten, welches mit dem Grundsatz der Nachhaltigkeit in Einklang steht. Zweitens erhält die Planung klare Hinweise darauf, mit welchen Folgen der in unserer Gesellschaft generierten Ungleichgewichte zu rechnen ist.

Literaturhinweise

Auerbach, A.J., Gokhale, J. & Kotlikoff, L.J. (1994). Generational Accounting: A Meaningful Way to Evaluate Fiscal Policy. Journal of Economic Perspectives, 8, 95–111.

Moog, S., Weisser, V. & Raffelhüschen, B. (2014). Altersvorsorge und die Schweizer Generationenbilanz: Lasten in die Zukunft verschoben. Zürich: UBS.

Raffelhüschen, B. & Brogmann, C. (2001). Zur Nachhaltigkeit der Schweizerischen Fiskal- und Sozialpolitik: Eine Generationenbilanz. Bern: SECO.

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