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Gesellschaftlicher Wandel

Jakob Tanner


Erstveröffentlicht: December 2020

Auch vormoderne Formen menschlichen Zusammenlebens unterlagen steter Veränderung. Doch die Begriffe «Gesellschaft» und «Wandel», die historisch eng zusammen gehören, erhielten erst gegen Ende des 18. Jh. ihre heutige Bedeutung. Vor der Aufklärung dominierte der religiös-politischer Kosmos des «Gottesgnadentums», in dem sich gottesfürchtige Menschen in eine unveränderbare ständische Ordnung einzufügen hatten. Mittels einer Unzahl von Geboten und Verboten versuchten die Herrschaftsträger, soziale Mobilität zu verhindern und mit der drakonischen Verfolgung von Irrlehren oder Regelverstössen sollte der Gehorsam der Untertanen gesichert werden. Umgekehrt zielten Proteste und Aufstände in der Frühen Neuzeit nicht auf einen radikalen Umsturz, sondern den Mächtigen wurde vorgeworfen, sie würden mit ihrer «Bauernschinderei» und der Unterdrückung der Landbevölkerung selber gegen das göttliche Gesetz verstossen.

Mit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und der Französischen Revolution brachen sich im ausgehenden 18. Jh. nicht nur neue Formen sozialer und politischer Mobilisierung Bahn, sondern nun schien es erstmals denkbar, dass Menschen sich nicht einem gottgegebenen Schicksal zu fügen hatten, sondern sich selber auf der Grundlage vernünftiger Entscheidungen regieren können. Eine Demokratie, welche auf den Wertetrias Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit basierte, liess gesellschaftliche Veränderungen zu und war auf die Zukunft hin offen. Der sozioökonomische Umbruch, der durch die gleichzeitig einsetzende fabrikkapitalistische Industrialisierung vorangetrieben wurde, kollidierte allerdings mit dem Gleichheitsideal der Volkssouveränität. An der Frage, wie Politik mit Ungleichheit und mit dem Nichtkontrollierbaren, dem Unabwägbaren einer immer komplexeren und deshalb opaken Gesellschaft umgehen soll, schieden sich im 19. und 20. Jh. die drei grossen ideellen Strömungen des Konservativismus, des Liberalismus und des Sozialismus. Während sich Konservativen dem sozialen Wandel oftmals widersetzten, hielten Liberale das Vertrauen in den Markt hoch und lehnten weitergehende Staatsinterventionen ab. Der Sozialismus wiederum trat für eine politisch-staatliche Gestaltung der wirtschaftlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Verhältnisse ein.

Im Fin de siècle (in der Zeit von ca. 1890 bis 1914) wurden die sich verschärfenden Ungleichheiten unter dem politischen Schlagwort «sociale Frage» diskutiert. Damals begann die Karriere der Soziologie, welche den gesellschaftlichen Wandel zum Objekt einer systematischen Beobachtung machen und so ein angemessenes Verständnis einer modernen Gesellschaft ermöglichen wollte. Alle europäischen Staaten bauten Statistikapparate auf und mit Hilfe neuer quantitativer Methoden wies die soziologische Wissenschaft nach, dass der Eindruck eines durch soziale und geographische Mobilität, rasche Urbanisierung, neue Massenmedien und Lebensstile hervorgerufenen Kontrollverlustes täuschte. Sie zeigte auf, wie sich unter den irritierenden Erfahrungen einer in verschiedener Hinsicht als chaotisch erfahrenen Industriemoderne stabile Muster reproduzierten. Dieses Vertrauen in Zahlen stützte auch die so durchsichtig gemachte gesellschaftliche Ordnung.

Gleichzeitig gerieten die wissenschaftliche Erforschung des sozialen Wandels und die soziale Konfliktdynamik in ein Spannungsverhältnis. In dem Masse, in dem sich die Gesellschaft polarisierte, nahmen die Streitparteien soziale Probleme unterschiedlich wahr und bezogen sie auf oft diametral entgegengesetzte Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Arbeiter- und die Frauenbewegung (die zudem für politische Grundrechte kämpfte) kritisierten die kapitalistische Ausbeutung. Sie forderten soziale Sicherheit, ein Recht auf Arbeit sowie Chancengleichheit und skandalisierten die prekären Arbeits-, Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse der «arbeitenden Klassen». Bürgerliche und konservative Kräfte pochten demgegenüber auf Selbstverantwortung und Einordnung. Bis heute besteht Uneinigkeit darüber, worin die Probleme einer Gesellschaft bestehen und mit welchen Mitteln eine Verbesserung erreicht werden kann.

In der Nachkriegszeit verfügten Theorien des sozialen Wandels über eine weitreichende wissenschaftlich-politische Deutungshoheit. Die Soziologie erhob nun den Anspruch, «die Gesamtheit der in einem Zeitabschnitt erfolgten Veränderungen in der Struktur einer Gesellschaft» (so Peter Heintz in den 1960er Jahren) zu beobachten. Die Rückbindung an den Strukturbegriff erlaubte es, endogene und exogene, evolutionäre und revolutionäre, lineare und zyklische Veränderungsdynamiken zu unterscheiden. Damit verbunden waren ein Fortschrittsglaube und ein Planungswille. Regierungen teilten die Erwartung, mittels wissenschaftlicher Untersuchungen könne der sozialen Wandel in Richtung Chancengleichheit und soziale Sicherheit gelenkt werden.

In der lang anhaltenden wirtschaftlichen Prosperitätskonstellation (die «Trente Glorieuses» zwischen 1945 und 1975) stiegen in westlichen Industrieländern die finanzielle Kaufkraft und der materielle Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten an, was die klassenkämpferischen Konfrontationen dämpfte. Auf die Beschleunigungserfahrungen, welche die Halbwertszeit von Qualifikationen und Wissen spürbar verringerte, reagierte die Politik mit technokratischen Problemlösungsansätzen. Überall wurden Bildungs-, Gesundheits-, Verkehrs- und Kommunikationssysteme zielstrebig ausgebaut. Im globalen Systemwett­bewerb zwischen «sozialer Marktwirtschaft» und «realexistierendem Sozialismus» geriet letzterer zunehmend ins Hintertreffen. Die zentralverwalteten Wirtschaftssysteme des Ostblocks schienen durch einen raschen sozialen Wandel überfordert, während in westlichen Industrie­ländern sozialpolitische Massnahmen eine erfolgreiche Bewältigung sozialer Probleme versprachen. Trotz der «Weltsystem»-Aspirationen der Theorie blieb die politische Umsetzung stark in Nationalstaaten eingebettet, die zwar einen europäischen Integrationsprozess unterstützten, ihre Souveränitätsrechte jedoch bewahren wollten.

Insgesamt wurden gesellschaftliche Veränderungen während des Kalten Krieges stark durch die Linse eines soziologischen Struktur- bzw. Systemfunktionalismus und seit den 1960er Jahren auch der Kybernetik wahrgenommen. Verdichtet wurden diese Ansätze in den rasch modisch werdenden Modernisierungstheorien, die auf ein standardisiertes Set von Paradigmen (Differenzierung, Mobilisierung, Partizipation, Säkularisierung, Konfliktinstitutionalisierung) abstellten. Seit den 1970er Jahren verschafften sich allerdings kritische Stimmen Gehör, die sowohl die unterstellte Zwangsläufigkeit und Linearität von Modernisierungsschüben wie auch die eurozentrische Schlagseite dieses ganzen Theoriekonstrukts zurückwiesen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges gerieten die etablierten Theorien in eine Krise. Seit einigen Jahrzehnten ist evident, dass die Analyse des sozialen Wandels einer transnationalen und globalen Perspektive bedarf, um die vielfältigen Verflechtungen, Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Transkulturationsprozesse angemessen berücksichtigen zu können. Dies hat das Nachdenken über Formwandel und Funktionsweise transnationaler, europäischer und globaler Regulationsregimes angeregt. Und mit der Debatte um das «Verschwinden des Sozialen» gerieten verschiedene in herkömmlichen Theorien sozialen Wandels unterbelichtete Faktoren – gesellschaftliche Ungleichheiten ebenso wie die Resonanz von Religionen sowie rassistisch- nationalistische Phantasmen – ins Blickfeld. Zudem wird mit dem Konzept des Anthropozäns auf neue Weise auf die historische Tiefendimension der Veränderungsdynamik moderner Gesellschaften reflektiert. Indem Theorien des anthropogenen Klimawandels den sozialen Wandel moderner Gesellschaften in längerfristige ökologische Zusammenhänge einrücken, wird die Theoretisierung des gesellschaftlichen Wandels heute mit neuen Problemen konfrontiert.

Literaturhinweise

Jäger, W. & Weinzierl, U. (2011). Moderne soziologische Theorien und sozialer Wandel. Wiesbaden: VS.

Müller, H.-P. & Schmid, M. (1995). Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Zapf, W. (Hrsg.) (1969). Theorien des Sozialen Wandels. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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