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Gesundheitsversorgung im Alter

Heike Bischoff


Erstveröffentlicht: December 2020

Angesichts der sich aktuell sehr schnell än­derden ändernden Demografie in der Schweiz, mit einer erwarteten Verdopplung älterer Erwachsenen im Alter 65+ von 2015 bis 2030 und dem gleichzeitig stagnierendem oder gar abnehmendem jüngsten Bevölkerungssegments, gewinnt die Gesundheitsversorgung im Alter eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung auf drei Ebenen. Auf der individuellen Ebene wünschen sich Menschen im Alter 65+ eine hohe Lebensqualität und Sicherstellung ihrer Autonomie bis ins hohe Alter. Auf der gesellschaftlichen Ebene bewirkt der demografische Wandel, dass der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz zunehmend von älteren Erwachsenen abhängen wird, da die jüngeren Erwachsenen in ihrer Anzahl nicht nachkommen. Auf der Ebene Gesundheitspolitik besteht bei der erwarteten Verdopplung älterer Erwachsener eine Herausforderung, die Finanzierung einer sehr guten medizinischen Versorgung sicherzustellen, zumal auch eine Zunahme alters-assoziierter Erkrankungen wie Demenz, Knochenbrüche, Herz-Kreislaufereignisse zu erwarten ist. Die Gesundheit im Alter mit einer Verlängerung der gesunden und behinderungsfreien Lebenserwartung ist für alle drei Ebenen ein zentraler Lösungsansatz.

Grundlage zur Einleitung dieses Lösungsansatzes ist ein neues Verständnis um die Gesundheit im Alter. Dabei ist festzuhalten, dass unsere Biologie limitiert ist und das Alter fundamental mit dem Auftreten chronischer Erkrankungen verbunden ist. Ihr Auftreten lässt sich nicht verhindern, dennoch lassen sich über eine Förderung der Gesundheit in einem präventiven Ansatz, alters-assoziierte Erkrankungen hinauszuzögern und damit Lebensqualität, Mobilität und Autonomie länger aufrechterhalten. Man nennt diesen volksgesundheitlichen Ansatz auch «Verlängerung der gesunden Lebenserwartung» oder, wie 2016 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) postuliert, «Erhaltung der Intrinsische Kapazität» oder «Funktionalität». Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es eines neuen Forschungs­ansatzes, der zum Ziel hat, effektive, verträgliche und erschwingliche Massnahmen zu prüfen, die auf der Ebene der Bevölkerung anwendbar sind und gleichzeitig mehrere Organfunktionen verbessern können. Dieser Forschungsansatz wird auch «Delayed Aging – Verzögertes Altern» – genannt und ist das Kernziel der modernen Altersforschung. Er unterscheidet sich umfassend vom klassischen Forschungsmodel, welches auf eine Organfunktion oder eine Erkrankung abzielt. Die Verlängerung der gesunden Lebenserwartung und Erhalt der Funktionalität bedarf einer Förderung aller wichtigen Organfunktionen und bezieht den ganzen Menschen mit ein.

In diesem Sinne konnte in der Schweiz mit dem Start der DO-HEALTH Studie ein Meilenstein in der modernen Altersforschung lanciert werden. Die Studie schliesst mehr als 2000 gesunde Frauen und Männer im Alter von 70 Jahren und älter aus fünf Ländern ein (Deutschland, Frankreich, Österreich, Portugal und Schweiz) und zeigt auf, inwieweit drei einfache Massnahmen (tägliche Einnahme von Vitamin D, Omega-3 und einfaches Trainingsprogramm für zu Hause) den Alterungsprozess verzögern können und wichtige alters-assoziierte chronische Erkrankungen im Risiko senken und damit die gesunde Lebenserwartung verlängern können. Beim Studienstart von DO-HEALTH waren über alle Länder hinweg 42 % aller Teilnehmer und Teilnehmerinnen «Healthy Agers», d. h. Personen, die frei von chronischen Krankheiten sind und eine gute körperliche und mentale Gesundheit haben. In der Schweiz lag dieser Wert sogar bei 51 %. Ziel ist, dass die DO-­HEALTH Interventionen zukünftig Wirkung zeigen und den Anteil der gesunden und aktiven Menschen im Alter 70+ weiter ansteigen lässt.

Darüber hinaus bleibt die umfassende Versorgung der zunehmenden Anzahl älterer Patientinnen und Patienten im Akutspital ein wichtiges Handlungsfeld. Angesichts des demografischen Wandels ist heute bereits jede zehnte zu behandelnde Person im Akutspital 80 Jahre oder älter. Diese Patienten werden in allen Fachdisziplinen behandelt, wobei in der Regel ein Hauptproblem (z. B. Herzinfarkt) im Vordergrund steht. Eine optimale Genesung eines älteren Patienten benötigt einen umfassenden Blick auf alle vorhandenen chronischen Erkrankungen, auf mögliche Interaktionen von Medikamenten bei sich im Alter verändernden Organfunktionen, auf Gedächtnisfunktion, Funktionalität/Mobilität und Ernährung, sowie Abklärung vorhandener multidimensionaler Ressourcen (eigene und im Umfeld). Diese zusätzliche Dimension bedarf im Idealfall einen Einbezug der altersmedizinischen Kompetenz. Ein bereits etabliertes erfolgreiches Konzept ist mit dem Aufbau von Alterstraumatologie-Zentren verbunden. Hier arbeiten Unfallchirurgen ab Eintritt des Patienten sehr eng mit den Altersmedizinern zusammen, mit dem Ziel, Patienten im Alter von 70 und älter mit erlittenen Sturz-Verletzungen (Knochenbrüche, Schädelhirntrauma) möglichst rasch wieder auf die Beine zu bringen. Dabei ist zu beachten, dass das Alter der zu behandelnden Personen spezifische Anforderungen an die medizinische Behandlung stellt. Bei älteren Knochenbruchpatienten geht es aus chirurgischer Sicht darum, den Knochenbruch so zu stabilisieren, dass der Patient bereits am ersten Tag post-operativ voll belasten kann und damit eine Bettlägerigkeit und die damit verbundene hohe Gefahr eines rapid einsetzenden Kraft- und Funktionsverlustes vermieden werden kann.

Parallel zur akutmedizinischen Betreuung ist daher für die Gesundheitsversorgung im Alter eine unmittelbar einsetzende (Früh-)Rehabilitation von grosser Bedeutung. Tägliche Trainingseinheiten und aktivierende Pflege (Geriatrische Komplexbehandlung) wirkt bei immobilisierten älteren Patienten und Patientinnen (30 % Kraftverlust in einer Woche Bettlägerigkeit) dem schnellen funktionellen Abbau entgegen und ermöglicht damit eine nachhaltige Wiedererlangung der Autonomie. Solche innovativen Schwerpunktkonzepte sind für viele Spezialfächer in der Medizin denkbar und können die spitzenmedizinische Versorgung in der Schweiz bei zu behandelnden Personen im Alter von 70/80+ Jahre nachhaltig verstärken und wichtige Risiken wie Delir (akuter Verwirrtheitszustand) und Komplikationen wie Stürze, Medikamenten-Nebenwirkungen und Autonomie-Verlust senken.

Neben der Förderung der Gesundheit im Alter durch Prävention und einer umfassenden akutmedizinischen Versorgung älterer Personen ist die Verbesserung der Schnittstellen Ambulanz, Akutmedizin und Nachsorge älterer Patienten und Patientinnen ein weiteres wichtiges Handlungsfeld der Zukunft. Ziel ist ein integriertes Versorgungskonzept mit optimalem Informations- und Wissenstransfer zwischen allen Partnern im Gesundheitssystem, um die Genesung älterer zu behandelnden Personen und die Erhaltung der Autonomie gemeinsam sicherzustellen. Es besteht ein hoher Bedarf an Begleitforschung, zum einen um neue Versorgungskonzepte über die Schnittstellen hinaus prüfen und nachhaltig etablieren zu können, zum anderen um älteren Menschen mit Pflegebedarf dabei auch eine individuell angepasste Unterstützung bieten zu können.

Schliesslich sind die sozialen Determinanten der Gesundheit nicht wegzudenken. Lebensumstände, Herkunft, Lebensstil, berufliche Tätigkeiten, aber auch der Zugang zu und die Art von Gesundheitsleistungen beeinflussen die menschliche Entwicklung hin zum Alter. Nicht zuletzt sind die gesundheitlichen Ungleichheiten aus der sozialwissenschaftlichen Forschung bekannt. Diesen aus sozialpolitischer Sicht besonders relevanten Determinanten der Gesundheit ist auch für die Gesundheitsversorgung im Alter Rechnung zu tragen.

Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass die Gesundheit im Alter eine Strategie bietet, um eine möglichst gute medizinische Versorgung angesichts der Herausforderung des demografischen Wandels gewährleisten zu können. Hierzu sind die Handlungsfelder Prävention und innovative Co-Management-Konzepte im Akutspital wichtige Ansätze. Sie können den schnellen demografischen Wandel in der Schweiz positiv beeinflussen und über eine länger anhaltende Gesundheit und nachhaltige Akutmedizinische Versorgung Kosteneinsparungen im Gesundheitssystem bieten.

Literaturhinweise

DO-HEALTH Studie. https://www.media.uzh.ch/en/Press-Releases/2017/DO-HEALTH.html

World Health Organization (Ed.). Global strategy and action plan on ageing and health. Geneva: WHO.

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