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Gleichheit

Antoine Chollet

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Gleichheit zählt zu den Begriffen der politischen Philosophie, die besonders schwierig zu definieren sind. Aristoteles schrieb bereits im 4. Jh. v. Chr., dass die Frage, was gleich und ungleich sei, eine Quelle von Schwierigkeiten (Aporie) sei, und begründete damit die Gleichheit als Thema der politischen Philosophie. Im Bereich der Sozialpolitik ist der Begriff nicht minder problematisch, doch kann er hilfreich sein, um zwischen verschiedenen Modellen zu unterscheiden.

Die zwei hauptsächlichen Ansätze, die Gleichheit zu verstehen, entsprechen zwei unterschiedlichen politischen Vorstellungen. Der erste Ansatz – die neuzeitliche, liberale Sichtweise – geht von einer naturgegebenen Gleichheit aus und fordert von den Institutionen – beispielsweise in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 oder in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 –, diese Gleichheit anzuerkennen. Die zweite, demokratische Sichtweise überträgt den Institutionen der Gemeinschaft die Aufgabe, gleichberechtigte Personen mit gleichen Freiheiten auszustatten.

Die Ungewissheit bezüglich der Definition von Gleichheit – naturgegeben oder durch Institutionen gebildet – durchdringt sämtliche Diskussionen zum Thema. In der Neuzeit sprechen sich die meisten politischen Philosophen für die erste Variante aus. Die Gleichheit wird in diesem Fall mit dem Naturzustand in Verbindung gebracht, während die Gesellschaft nachträglich Hierarchien errichtet, die gerecht oder ungerecht sein können. Eine Gesellschaft soll gleiche Rechte garantieren, nicht aber eine substanzielle Gleichheit ihrer Mitglieder. Im 20. Jh. wurde dieses Argument von John ­Rawls wieder aufgegriffen, nach dessen Ansicht einzig die Grundfreiheiten für alle Mitglieder einer gerechten Gesellschaft gleich sein müssen. Ungleichheiten sind wünschenswert, vorausgesetzt sie verbessern das Schicksal der am wenigsten Begünstigten und die Positionen und Ämter stehen allen offen. Im Bewusstsein, dass es sich hier keineswegs um ein egalitäres Argument handelte, nannte er dies das «Differenzprinzip». Verschiedene Autoren haben sich bemüht, weitere Bereiche aufzuführen, die in einer gerechten Gesellschaft gewährleistet sein müssen, darunter Amartya Sen, der ergänzend die capabilities (Verwirklichungschancen) hinzufügte, ohne das Problem grundsätzlich zu verändern. Ziel bleibt es, allen Mitgliedern in einer Gesellschaft, die ungleich bleibt, eine gleichwertige Menge von etwas zur Verfügung zu stellen, bevor die sozialen Interaktionen ihren Anfang nehmen.

Im Gegensatz dazu geht die athenische Philosophie weder von einer ursprünglichen Gleichheit noch von einer rein formellen aus: Gleichheit ist aufgrund der Ungleichheiten zu verstehen. Politische Gleichheit bezweckt keineswegs die Angleichung aller oder gar ihre Austauschbarkeit, ebenso wenig ein auf irgendwelche Art einforderbares Minimum, sondern gleiche Möglichkeiten, an gemeinsamen Angelegenheiten mitzuwirken, sowie Institutionen, die diese Mitwirkung effektiv gewährleisten. Die Feinheiten der athenischen Verfassung im Bestreben, sich diesem Ideal zu nähern, sind bekannt. Weniger geläufig sind hingegen die Warnungen, dass übermässige Vermögensunterschiede sich nachteilig auf die Gleichheit auswirken, die in der langen republikanischen Tradition, von Aristoteles bis Rousseau und darüber hinaus, geäussert wurden. In die heutige Terminologie übersetzt bedeutet dies, dass politische Gleichheit zwar nicht vollständige Ressourcengleichheit voraussetzt, aber immerhin eine Begrenzung der wirtschaftlichen Ungleichheiten.

Der Begriff der Gleichheit stellt andere zentrale Begriffe des politischen Denkens infrage, insbesondere den Begriff der Gerechtigkeit. Gleichheit und Gerechtigkeit sind keineswegs gleichwertig, obschon dies in der politischen Philosophie zum Teil behauptet wird. In einigen sehr grundlegenden Aspekten stehen sich die beiden Begriffe sogar diametral gegenüber. Seit Plato wird Gerechtigkeit in den Rahmen der Wahrheit gestellt und völlig losgelöst von politischen Erwägungen definiert. Gerechtigkeit ist bestrebt, die Gesellschaft nach Kriterien zu ordnen, die ihr transzendent sind. Gleichheit ist hingegen ein durch und durch politisches Konzept ohne jegliche Transzendenz, wie Cornelius Castoriadis hervorgehoben hat. Aus diesem Grund betrachten die Philosophie, das Recht und die Ethik die Gleichheit oft mit Vorsicht oder sogar mit Argwohn.

Komplizierter ist das Verhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit. Ungeachtet, ob die beiden Begriffe gemäss der üblichen konservativen Meinung als Gegensätze gelten oder ob sie als eng zusammenhängende, ja sogar koextensive Begriffe betrachtet werden, wie es in Étienne Balibars Konzept der «Gleichfreiheit» (Égaliberté) in La proposition de l’égaliberté aus dem Jahr 2010 der Fall ist, stehen sie auf jeden Fall in einem problematischen Verhältnis zueinander. Norberto Bobbio bezeichnet die gegensätzlichen Positionen in seinem Werk Destra e sinistra von 1994 als ein Unterscheidungsmerkmal für die Rechte und die Linke, wobei die Rechte die beiden Begriffe als Gegensätze, die Linke aber als komplementär sieht.

Die Gleichheit steht im Mittelpunkt aller Demokratietheorien. Am besten zeigt dies vielleicht Tocqueville in seiner Beschreibung der amerikanischen Demokratie. Die Angleichung der Bedingungen ist für ihn das Fundament der sich in den Vereinigten Staaten entwickelnden demokratischen Gesellschaft und schlägt sich in einer Horizontalität der Beziehungen zwischen den Individuen nieder, die zu jener Zeit in Europa noch unvorstellbar ist. Gleichzeitig beunruhigen die möglichen Entwicklungen einer solchen Angleichung den Aristokraten Tocqueville, und in seinem Buch De la démocratie en Amérique findet sich eine der ersten neuzeitlichen Erwähnungen des Zusammenfallens von Gleichheit und Knechtschaft, wenn sich die undifferenzierte Masse unter den Schutz einer «gewaltigen, bevormundenden Macht» stellt. Tocqueville wird zwar gern von den Feinden der Gleichheit eingespannt, doch dabei wird gern übersehen, dass er eine derartige Entwicklung nicht als zwangsläufig einschätzte.

Im Bereich der Sozialpolitik wird Gleichheit traditionell mit der Politik sozialdemokratischer Regierungen der Nachkriegszeit in Verbindung gesetzt, in der der universelle Zugang zu den diversen Sozialversicherungen eine wichtige Rolle spielt. Gøsta Esping-Andersen stellt etwa in seiner Analyse der verschiedenen Arten von Wohlfahrtsstaaten fest, dass das skandinavische sozialdemokratische Modell, das auf der Staatskontrolle und der universellen Leistungsabgabe beruht, dazu beigetragen hat, die egalitärsten Gesellschaften zu schaffen. Die übrigen Modelle, das «korporativ-konservative» («nach Bismarck») und das «liberale» («nach Beveridge») Modell, erzielen in dieser Hinsicht nicht die gleichen Ergebnisse. Systeme, die auf der Wohltätigkeit basieren, um die am stärksten benachteiligten Menschen über einer unilateral bestimmten Armutsgrenze zu halten, werden offensichtlich nicht vom Gedanken der Gleichheit getragen, sondern stehen ihm sogar diametral entgegen.

Im Falle der schweizerischen Sozialpolitik lassen sich Institutionen unterscheiden, die mehr oder minder das Gleichheitsgebot erfüllen. Die AHV lässt sich am weitesten auf die Gleichheit ein, da sie einkommensabhängige Beiträge ohne Obergrenze erhebt, aber ähnlich hohe Leistungen an alle Menschen ab dem gleichen Alter auszahlt. Später hinzugekommene Instrumente, wie die zweite (BVG) und die dritte Säule (private, freiwillige Vorsorge), entsprechen hingegen dem entgegengesetzten Prinzip, nämlich der Aufrechterhaltung der bestehenden Ungleichheiten.

Von allen Werten, die eigentlich der Demokratie zugrunde liegen, ist die Gleichheit zweifellos der umstrittenste, am wenigsten akzeptierte und am häufigsten bekämpfte. Niemand argumentiert ernsthaft zugunsten von Ungerechtigkeit, Willkür oder Tyrannei, doch fehlt es nicht an Rechtfertigungen der Ungleichheit aufgrund von Wettbewerb, Verdienst, Leistung oder Bildung. Wie Rousseau jedoch im zweiten Buch des Contrat social schrieb: «Gerade weil der Lauf der Dinge stets auf die Zerstörung der Gleichheit ausgeht, muss die Kraft der Gesetzgebung stets auf ihre Erhaltung ausgerichtet sein.»

Literaturhinweise

Castoriadis, C. (1986). Domaines de l’homme. Paris: Seuil.

Esping-Andersen, G. (1990). The three worlds of welfare capitalism. Cambridge: Polity Press.

Myers, J. (2010). The politics of equality: an introduction. London: Zed Books.

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