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Grenzüberschreitende Arbeit

Cédric Duchene-Lacroix, Pascal Maeder

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die grenzüberschreitende Arbeit ist eine bezahlte, regelmässige berufliche Tätigkeit, die von Nichtansässigen eines Landes ausgeübt wird, welche jeden Tag oder mindestens einmal pro Woche in ihr Wohnsitzland zurückkehren. Die Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind besonderen Problemen ausgesetzt, insbesondere in Bezug auf die Einreise- und Arbeitsbewilligung, die Steuern, die Wechselkurse und die soziale Sicherheit. In der Schweiz müssen ausländische Erwerbstätige die Bewilligung G einholen, wenn sie im Ausland wohnen und in der Schweiz arbeiten wollen. Je nach Fall gilt diese Berechtigung nur für einen bestimmten Zeitraum, der allerdings verlängerbar ist. Schweizer Bürgerinnen und Bürger, die im Ausland leben und in der Schweiz arbeiten, benötigen diese Bewilligung nicht. Zwischen den verschiedenen Teilpopulationen der Grenzgängerinnen und Grenzgänger besteht also eine rechtliche Asymmetrie.

Die grenzüberschreitende Arbeit ist im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückzuführen. Einerseits sind die Gesellschaften nach der im Verlauf der letzten Jahrhunderte erfolgten Transformation der Staaten in Nationalstaaten heute sozial, rechtlich, politisch und kulturell in nationalen Gebieten organisiert. Diese Situation hat dazu geführt, dass Kontrollen zur «Sicherung» der Grenzen und zur Regelung des Waren- und Personenverkehrs, darunter auch der Grenzgängerinnen und Grenzgänger, eingeführt wurden. Andererseits haben die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der letzten beiden Jahrhunderte zu modernen Gesellschaften geführt, die stark urbanisiert und mobil, aber auch hinsichtlich der Lebensbedingungen hochdifferenziert und ungleich sind. Gewisse Grenzregionen (in Europa und anderswo) sind besonders stark dem Einfluss dieser politischen und wirtschaftlichen Faktoren (territoriale Unterschiede hinsichtlich Lebensstandard und Erwerbsmöglichkeiten) ausgesetzt, die in Kombination mit einem dritten, geografischen Faktor (Distanzen und Transportkosten in der Region) ein System grenz­überschreitender Ströme zur Folge haben.

In der Schweiz trat die grenzüberschreitende Arbeit erstmals in den 1880er Jahren in der Region Oberrhein auf. Vom Deutschen Reich erlassene Zollvorschriften zwangen die boomende Schweizer Industrie dazu, in Deutschland Niederlassungen nahe der Grenze zu gründen. Dank dem bis zum Ersten Weltkrieg geltenden System der Freizügigkeit konnten in erster Linie «billigere» Arbeitnehmende aus der Schweiz eingestellt werden. Trotz der Einführung umfangreicher Einreisebeschränkungen infolge des Krieges wurde diese grenz­überschreitende Tätigkeit weitergeführt, bis die Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegsjahre ihr ein Ende setzten. Bemerkenswerterweise profitierten diese Grenzgängerinnen und Grenzgänger von der 1883 durch Bismarck eingeführten Sozialversicherungspflicht, während Arbeitnehmende in der Schweiz noch mehr als ein halbes Jahrhundert warten mussten, um in den Genuss ähnlicher Sozialleistungen zu kommen.

Der wirtschaftliche Aufschwung ab 1945 liess den Strom von Grenzgängerinnen und Grenzgängern wieder aufleben, allerdings in entgegengesetzter Richtung aus Deutschland, Frankreich und Italien, worin sich der wachsende Wohlstand der Schweiz widerspiegelte. Ebenso wie die Einwanderung wurde auch die grenzüberschreitende Arbeit ab 1931 durch das Gesetz über den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern (ANAG) sowie ab 2004 durch das bilaterale Freizügigkeitsabkommen (FZA) zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) geregelt. Der Anteil der grenzüberschreitenden Arbeitskräfte an der Erwerbsbevölkerung schwankt je nach Nachfrage auf dem Schweizer Arbeitsmarkt und diente in Zeiten rückläufiger Wirtschaftstätigkeit in den 1970er und den frühen 1990er Jahren sowie während kurzer Zeit nach der Finanzkrise von 2008 als «Konjunkturpuffer».

Bis zum Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens beschränkten sich die Wohn- und Arbeitsorte der Grenzgängerinnen und Grenzgänger auf eine «Grenzzone», die je nach Land und Jahr unterschiedlich breit war und maximal 60 Kilometer beidseits der Schweizer Landesgrenze umfasste. Heute erstreckt sich diese «Zone» auf das gesamte Gebiet der EU und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), sodass die Bürgerinnen und Bürger der EU seit 2004 unter dem Grenzgängerstatus beispielsweise ihren Hauptwohnsitz in Berlin und gleichzeitig einen Arbeitsplatz unter der Woche in Zürich haben können.

In den 2000er und 2010er Jahren stieg die Zahl der Grenzgängerinnen und Grenzgänger ebenso wie die Zahl der einwandernden Personen infolge des starken Wirtschaftswachstums in der Schweiz deutlich an. Im Jahr 2018 zählte die Schweiz fast 320 000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger, von denen sich 80 % auf die drei wichtigsten Grenzregionen (Genfersee­region, Nordwestschweiz und Tessin) konzentrierten. Während die grenzüberschreitenden Arbeitskräfte nur wenig mehr als sechs Prozent der gesamten Schweizer Erwerbsbevölkerung ausmachten, lag der Anteil in den Kantonen Tessin, Basel-Stadt und Genf bei über 25 %.

Die sozioökonomischen Profile der Grenzgängerinnen und Grenzgänger wurden in jüngster Zeit immer vielfältiger und näherten sich denen der Schweizer Erwerbsbevölkerung an. Aufgrund von mangelnder Ausbildung – im Fall von Arbeitnehmenden aus dem Elsass wegen ungenügender Deutschkenntnisse – verlieren manche grenzüberschreitenden Arbeitskräfte allerdings den Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt. In Genf offenbart die grosse Zahl von Schweizer Grenzgängerinnen und Grenzgängern (rund 20 000 oder ein Viertel aller grenzüberschreitenden Arbeitskräfte im Jahr 2016) die Dynamik der Stadtentwicklung, die mit einer sozialen Stratifikation nach Einkommen statt nach Grenzgängerstatus einhergeht.

Die grenzüberschreitende Arbeit stellt den Sozialstaat in Bezug auf die soziale Sicherheit, die Steuern, die Gesundheit, die Anerkennung von Qualifikationen und Diplomen, die Altersvorsorge und das Arbeitsrecht auf die Probe. Während sich der Grundsatz der Steueraufteilung (zur Vermeidung der «Doppelbesteuerung») bereits zu Beginn des 20. Jh. in bilateralen Abkommen durchgesetzt hat, werden die Modalitäten der Besteuerung weiterhin diskutiert, wie das Änderungsprotokoll von 2015 zwischen Italien und der Schweiz gezeigt hat. Die steuerliche Behandlung der grenzüberschreitenden Arbeit variiert je nach Wohnsitzland, Kanton des Arbeitsorts und Beschäftigungsgrad. Die Sozialversicherungen, die in der Schweiz ebenso wie anderswo in Europa hauptsächlich im nationalen Rahmen aufgebaut wurden, wenden den Grundsatz der Beitragspflicht am Arbeitsort an. Seit 2012 bilden die Bestimmungen der Europäischen Union die rechtliche Grundlage für die Koordinierung der verschiedenen nationalen Systeme der sozialen Sicherheit, wobei Ungleichheiten bei der Behandlung nicht vollständig ausgeräumt wurden. So erhalten beispielsweise Grenzgängerinnen und Grenzgänger bei Arbeitslosigkeit oder Invalidität nicht dieselben Sozialversicherungsleistungen wie schweizerische Arbeitnehmende, weil sie ihre Leistungen in ihrem Wohnsitzland zu den dortigen Kriterien beziehen, obschon sie ihre Beiträge in der Schweiz zu den gleichen Prozentsätzen wie die schweizerischen Arbeitskräfte bezahlt haben. Interessenverbände verurteilen zunehmend diese Unterschiede sowie die Komplexität, mit der Grenzgängerinnen und Grenzgänger infolge des Überlappens mehrerer Sozialversicherungssysteme konfrontiert sind.

Diese Probleme sind das Ergebnis von Diskontinuitäten zwischen den Sozial- und Migrationssystemen der Schweiz und der Wohnsitzländer der grenzüberschreitenden Arbeitskräfte, die zwar abgebaut wurden, aber noch immer beträchtlich sind. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Grenzgängerinnen und Grenzgänger in den Grenzkantonen einen notwendigen, wirtschaftlich vorteilhaften Beitrag leisten und dass ihre Anzahl keinen Einfluss auf das Beschäftigungsniveau der Schweizer Erwerbsbevölkerung hat. Nichtsdestotrotz werden Grenzgängerinnen und Grenzgänger von einem Teil der Bevölkerung als Bedrohung oder als «Schmarotzer» betrachtet. Diese fremdenfeindlichen Einstellungen werden weiterbestehen, so lange Grenzgängerinnen und Grenzgänger (jeder Nationalität) als Sündenböcke für andere soziale Probleme angesehen werden. In diesem Zusammenhang dürfte der «Inländervorrang» eine beruhigende Wirkung ausüben. Infolge der Annahme der Initiative gegen die Masseneinwanderung im Jahr 2014 werden seit dem 1. Juli 2018 freie Stellen in Branchen, deren Arbeitslosenquote einen festgelegten Wert überschreitet, während eines gewissen Zeitraums für Personen mit Wohnsitz in der Schweiz reserviert. Der Arbeitskräftebedarf sowie die Ansprüche an die nationale und grenzüberschreitende soziale Gerechtigkeit werden jedoch weiterhin Druck auf die Zugangsmodalitäten zum Arbeitsmarkt und zu den Sozialleistungen ausüben.

Literaturhinweise

Bolzman, C. & Vial, M. (2007). Migrants au quotidien, les frontaliers: pratiques, représentations et identités collectives. Zurich: Seismo.

Duchêne-Lacroix, C. (2016). Les habitants suisses des régions françaises limitrophes de la Suisse. Politorbis, 3, 17–20.

Usinger-Egger, P. (2016). Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und deren Durchführungsverordnung. Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht, 81–93.

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