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Inklusive Schule für Kinder mit Behinderungen

Michele Mainardi, Mauro Martinoni

Originalversion in italienischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Im Laufe der Zeit sind im Wesentlichen vier pädagogische Ansätze für Kinder mit Behinderungen aufeinandergefolgt: (1) Behandlung der Behinderung durch heilende Massnahmen (medizinisches Paradigma); (2) Kompensation des Defizits durch Entwicklung anderer Fähigkeiten, um die Auswirkung von Defiziten auszugleichen (kompensatorisches Paradigma); (3) Einsetzen von pädagogischen, didaktischen und organisatorischen Massnahmen, um die Auswirkungen des Defizits auf das individuelle Erleben zu minimieren (funktionales Paradigma); (4) Umgang mit Diversität im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Grundsatz der Fairness (Menschenrechtsparadigma).

In der ersten Hälfte des 20. Jh. prägten zwei Hauptrichtungen die Entwicklung der Sonderpädagogik: einerseits Bestrebungen, die Auswirkungen des Defizits auf die einzelne Person zu vermeiden oder zu verringern (Institute, die sich meist aus medizinischer Sicht auf einzelne «Typologien von Behinderungsursachen» spezialisierten); andererseits Bemühungen, welche oft auf der Religion oder der Philanthropie fussten und das Zusammenleben in den Mittelpunkt stellten.

Die Sonderpädagogik entwickelte sich parallel zur Entstehung spezifischer «Bedürfniskategorien», die hinsichtlich der Möglichkeiten für Erziehung und «Rehabilitation» mehr oder minder klar voneinander abgrenzbar waren. «Taubheit» nahm zum Beispiel rasch eine wichtige Position ein: Die Bedeutung der Sprache als typisch menschliche Eigenschaft machte diese Behinderung zu einer leicht identifizierbaren Kategorie, wodurch die rasche Entwicklung spezifischer Massnahmen gefördert wurde.

Das Inkrafttreten der Invalidenversicherung (IV) im Jahr 1964 stellte einen bedeutenden Wendepunkt dar. Das IV-Gesetz gewährleistet die Autonomie der Kantone und ermöglicht es den als «behindert» anerkannten Personen, aufgrund des Rechts auf Versicherung individuelle Ansprüche an die Finanzierung von Leistungen in den Bereichen Bildung, Rehabilitation, medizinische Pflege und Soziales geltend zu machen. Direkte Massnahmen sind im Gesetz nicht vorgesehen. Vielmehr unterstützt das Gesetz die Initiativen von Kantonen und Stiftungen, indem die im Vergleich zum Regelfall höheren Schul- und Therapiekosten von Kindern mit Behinderungen übernommen werden. Die Trennung zwischen der Institution, die diese Mehrkosten finanziert (Bund), und der Institution, welche die Massnahmen umsetzt, sorgt für eine positive Dynamik, die unter Wahrung der Autonomie der Einrichtungen und der Kantone die Innovation und die Qualität fördert. Das System der Subventionen stimuliert nicht nur Rehabilitationsmassnahmen und die Entwicklung von Kompetenzen, sondern unterstützt und fördert zudem die Ausbildung sowie die Umsetzung spezifischer Projekte und Organisationen.

In der Schweiz fallen Erziehung und Ge­sundheit in die Kompetenz der Kantone. Aufgrund der Unterschiede in Tradition, Kultur und Modellen im Erziehungswesen der Kantone sind vielfältige, uneinheitliche Entwicklungen festzustellen. Während in gewissen Kantonen eine gesonderte Betreuung (Sonderschule und Sonderpädagogik) an Orten ausserhalb der Regelschule stattfindet, gelten in andern «normale» Schulen und Klassen als Voraussetzung für eine hochwertige Sonderbetreuung (Integration von Kindern und/oder Klassen, die spezielle pädagogische oder therapeutische Massnahmen in Klassen und/oder in der Regelschule erhalten). Gleichzeitig tragen Elternvereinigungen, Berufsverbände und eine wachsende Zahl von sozialen und wissenschaftlichen Initiativen dazu bei, dass der schulischen und sozialen Integration von Menschen mit Behinderungen zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre findet Sonderpädagogik nicht mehr ausschliesslich in spezialisierten Schulen statt (strukturelle Differenzierung). Die «spezielle» Betreuung wurde laufend verbessert, und die Möglichkeiten der Differenzierung innerhalb der Schulen und der Klassen des regulären Unterrichts nahmen stark zu. So konnte sich die Sonderpädagogik von den Zwängen befreien, die sie innerhalb gesonderter Schulen erfuhr. Auf regionaler und kantonaler Ebene führte dieser Prozess zu je unterschiedlichen Umsetzungen, Massnahmen und politischen Aktionen, die sich auch nicht zeitgleich entwickelten. Der Prozess als solcher ist aber mittlerweile überall unumkehrbar geworden. Der Anteil der Kinder im schulpflichtigen Alter, die eine sonderpädagogische Ausbildung ausserhalb der Regelschule absolvierten, betrug im gesamtschweizerischen Durchschnitt in den 1990er Jahren 4 bis 6 %. Im gleichen Zeitraum schwankte dieser Wert in den Kantonen zwischen 2 und 10 %, je nachdem, in welchem Umfang die Kantone Sonderpädagogik einsetzten.

Das Paradigma, welches heute die Inklusion – bis vor Kurzem die Integration – sowohl als Instrument als auch als Ziel der Bildung definiert, hat sich Ende der 1990er Jahre in Europa als dominierendes Konzept für besondere Bildungsbedürfnisse durchgesetzt. Die Umsetzung dieser Idee in den Bildungssystemen auf kantonaler, nationaler und internationaler Ebene hat die Debatte über die Formen und Orte der Sonderpädagogik in den Schulen neu belebt. Im April 2013 unterzeichnete die Schweiz die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und übernahm damit ausdrücklich politische und ethische Verpflichtungen. Diese Konvention fördert die offizielle Anerkennung und Aufwertung der bereits seit Langem im In- und Ausland gemachten Lehrerfahrungen mit Inklusion. Ungeachtet der Vielfalt der Umsetzungen in den verschiedenen Kantonen hat sich im Laufe der Jahre die allgemeine Tendenz herausgebildet, Kinder mit Defiziten in der Wahrnehmung oder der motorischen Koordination, die ihre Autonomie nicht beeinträchtigen, in die Regelschule zu integrieren, während Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder erheblichen intellektuellen Defiziten weiterhin in Sonderschulen oder -klassen unterrichtet werden. Im Schuljahr 2014/2015 besuchen landesweit im Schnitt 3,4 % der schulpflichtigen Kinder eine sonderpädagogische Ausbildung ausserhalb der Regelschule mit kantonalen Schwankung von ± 2 %.

Das Versicherungsmodell, auf dem die Sonderpädagogik beruhte, stellte einen aussergewöhnlichen und komplexen institutionellen Rahmen dar: eine Bundesversicherung, die bestimmte individuelle Ansprüche garantiert, verbündete sich mit den Werten und Organisationsprinzipien der Erziehungs- und Bildungssysteme auf lokaler Ebene. In diesem Modell führte jede sonderpädagogische Massnahme – sei es in struktureller Differenzierung oder in Inklusion – zu einem Dialog zwischen einerseits den aussergewöhnlichen Bedürfnissen und andererseits den Traditionen, Konventionen, Gewohnheiten und Ressourcen der Institution. Dieser Rahmen bot einen gewissen Handlungsspielraum, ohne Verpflichtungen aufzuerlegen. Die vereinzelte, teilweise oder vollständige Integration von Kindern mit «sonderpädagogischem Förderbedarf» basierte auf den spezifischen Möglichkeiten des Dialogs zwischen dem Individuum und der Institution.

Die von den Unterzeichnerstaaten der Konvention gewünschte Perspektive der Inklusion betont nicht die individuellen Ansprüche, sondern das Recht aller auf Zugang zu einer Schule, die in der Lage ist, für alle eine Betreuung in einem gemeinsamen Schul- und Lernraum zu gewährleisten. Mit diesem neuen Paradigma nimmt das Prinzip der Menschenrechte und der Gleichberechtigung hinsichtlich der Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Gemeinschaft Gestalt an.

Der Wertewandel durch den Übergang vom individuellen und kausalen Anspruch zum generellen Recht aller Schüler und Schülerinnen auf inklusive Bildung (Menschenrechtsparadigma) erzeugt einen gewissen ideologischen Druck auf die Praxis- und Lerngemeinschaften. Eine «Schule für alle» erfordert eine Überarbeitung der Grundlagen, insbesondere betreffend der Aufgabenteilung zwischen Erziehung und Bildung, der Erstellung von Lehrplänen, der Entwicklung neuer didaktischer und pädagogischer Situationen und Voraussetzungen, der Bewertung des Lernens und der Anpassung neuer schulischer Qualitätsindikatoren.

Literaturhinweise

Bless, G. & Mohr, K. (2007). Die Effekte von Sonderunterricht und gemeinsamem Unterricht auf die Entwicklung von Kindern mit Lernbehinderungen. In W. Jürgen & F. Wember (Hrsg.), Sonderpädagogik des Lernens: Handbuch Sonderpädagogik (Bd. 2, S. 375–383). Göttingen: Hogrefe.

Mainardi, M. (2005). Scuola regolare e pedagogia speciale e specializzata: un rapporto in costante divenire? In B. Kronenberg & A. Kummer Wyss (Hrsg.), Heilpädagogik für alle? Education et pédagogie spécialisées pour tous? (S. 127–146). Luzern: Edition SZH/SPC.

Rochat, L. (2009). Les conceptions et modèles principaux concernant le handicap. Berne: Bureau fédéral de l’égalité pour les personnes handicapées.

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