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Jugenddelinquenz

Heinz Messmer, Rahel Heeg


Erstveröffentlicht: December 2020

Jugenddelinquenz verweist auf Verstösse junger Menschen gegen das Strafrecht. In der Schweiz bezieht sich der Begriff auf Kinder und Jugendliche zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Lebensjahr, die eine mit Strafe bedrohte Tat begangen haben.

Der Begriff der Jugenddelinquenz folgt der Prämisse, dass straffällige Jugendliche ihre Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen haben und daher nicht im gleichen Masse wie Erwachsene für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden können. Laut Dunkelfeldforschungen sind strafrechtlich relevante Vergehen im Jugendalter (insbesondere im Bagatellbereich) weit verbreitet. Taten werden oft spontan und in Gruppen begangen, der wirtschaftliche Schaden ist meist gering. Mit Annäherung an die Volljährigkeitsgrenze entwickelt sich straffälliges Verhalten auch ohne strafrechtliche Interventionen vielfach wieder zurück. Kennzeichnend für Delinquenz im Jugendalter ist somit die Trias von Ubiquität (Allgegenwart), Spontanbewährung (Rückgang von Straftaten gegen Ende der Jugendphase auch ohne Intervention) und (geringer) Intensität. Nur eine kleine Gruppe (etwa 6 % aller Jugendlichen) begeht viele und schwerwiegende Delikte über einen längeren Zeitraum hinweg. Diese Gruppe gilt als die eigentliche kriminalpolitische Problem- und Risikogruppe (im angelsächsischen Sprachgebrauch als chronics, high risk offenders oder persistent offenders bezeichnet). Bei dieser Gruppe kumulieren oft verschiedene soziale, kulturelle, (lern-)psychologische oder biologische/neurologische Risikofaktoren. Uneinigkeit herrscht bezüglich der Frage, welche der vielen denkbaren Einflussfaktoren für das konforme oder abweichende Verhalten junger Menschen massgeblich sind.

Die rechtliche Sonderstellung von Kindern und Jugendlichen ist eine Errungenschaft der Neuzeit. Noch im Strafrecht des Mittelalters wurden Kinder den Erwachsenen gleichgestellt. Parallel zur Humanisierung des Strafrechts im Gefolge der Aufklärung zu Beginn des 18. Jh., der Entwicklung der modernen Freiheitsstrafe, der Zurückdrängung von Todes- und Leibstrafen und der Einrichtung von Zuchthäusern entstanden erstmalig Einrichtungen mit pädagogischem Anspruch für «ungeratene Kinder». Ein entscheidender Impuls für die Entwicklung einer modernen (Jugend-)Gerichtsbarkeit geht auf die Forderung Franz von Liszts zurück, den Schwerpunkt strafrechtlicher Interventionen nicht auf die Tat und ihre Vergeltung zu legen, als vielmehr auf die Persönlichkeit der Tatperson und die Möglichkeiten einer erzieherischen Resozialisierung.

In der Schweiz wurden Fragen eines Jugendstrafrechts erstmals im ausgehenden 19. Jh. erörtert. Verschiedene Kantone passten ihre Gesetzgebung in den 1920er und 1930er Jahren den erzieherischen Reformentwicklungen an. Das Schweizerische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1942 löste schliesslich kantonale Regelungen ab. In Artikel 82–99 wurden die Grundzüge eines erzieherisch motivierten Tatstrafrechts formuliert. Demnach sollten bei Verwahrlosung oder (sittlicher) Gefährdung vorrangig Massnahmen gesprochen werden.

Seit den 1960er und 1970er Jahren (und danach) haben verschiedene Reformprogramme die Sicht auf das Phänomen «Jugendkriminalität» international nachhaltig verändert. Vermehrt wurden Zweifel an den förmlichen Strafzwecken formuliert: Strafe wirke nur bedingt abschreckend, die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten nehme mit der Stärke der strafrechtlichen Sanktion nicht ab, sondern zu und delinquentes Verhalten werde mit Eintritt in das Erwachsenenleben mehrheitlich auch ohne Intervention aufgegeben. Entsprechend wurde gefordert, stärker erzieherisch als strafend zu wirken und die stigmatisierenden Einflüsse der förmlichen Strafgerichtsbarkeit so gering als möglich zu halten. Bei Straftaten im unteren und mittleren Kriminalitätsbereich solle auf eine Strafverfolgung verzichtet werden zugunsten einer Resozialisierung der Tatperson. Der Fachbegriff Diversion bezeichnet entsprechend die Umleitung bzw. Umgehung förmlicher Strafverfolgungsverfahren.

Etwa zeitgleich forderten Opferhilfebewegungen mehr Aufmerksamkeit auf Wiedergutmachung statt auf Strafe zu legen. Anstelle der Feststellung von Schuld (Fokus auf die Tatperson) konzentriert sich wiedergutmachende Justiz (restorative justice) auf die Feststellung des Schadens (Fokus auf die Geschädigten). Mittlerweile ist der Wiedergutmachungs­gedanke in den meisten Rechtsordnungen westlicher Staaten enthalten, hat aber in der Jugendgerichtsbarkeit oft nur geringe Bedeutung.

«Jugendkriminalität» existiert somit nicht als ein gegebenes Faktum. Vielmehr wird es dadurch geformt, was eine Gesellschaft als unhintergehbare Normen und moralische Grenzziehungen definiert, mit welchen Mitteln sie auf Normbrüche reagiert und inwieweit der individuelle Kontext der Jugendlichen dabei berücksichtigt wird.

Ein eigenständiges Schweizerisches Jugendstrafgesetz ist seit 2007 in Kraft. Es kennt zwei Reaktionsformen: Strafen und Schutzmassnahmen. Dabei gilt die Regel «Erziehung vor Strafe». Die Reaktionen sollen der persönlichen Situation der Tatperson angepasst sein und die Persönlichkeitsentwicklung positiv unterstützen. Strafen werden nicht als Vergeltungsstrafen verstanden, sondern als Warnung, die Lernprozesse auslösen sollen. Strafen und Erziehungsmassnahmen können gleichzeitig ausgesprochen oder im Zuge ihrer Durchführung die eine durch die andere ersetzt werden (stellvertretender Austausch strafrechtlicher Sanktionen resp. dualistisch-vikariierendes System). Die Kosten des Vollzugs von Schutzmassnahmen tragen die Kantone, Eltern und Jugendliche haben eine Beitragspflicht.

Das Schweizer Jugendstrafrecht bleibt weit unter den Strafandrohungen anderer europäischer Länder. Strafrechtlich motivierte Unterbringungen wie Freiheitsentzüge sowie Untersuchungs- und Sicherheitshaft werden selten verhängt. Sie sind seit Anfang der 2010er Jahre zudem weiter rückläufig. Der Grossteil eingriffs­intensiver Massnahmen des Jugendstrafrechts wird primär im Kontext von «Schutzmassnahmen» umgesetzt (Aufsicht, persönliche Betreuung, ambulante Behandlung, offene/geschlossene Unterbringung), während «Strafen» (mit Ausnahme der Freiheitsstrafe) vorzugsweise bei Bagatelldelikten eingesetzt werden (Verweis, persönliche Leistung, Geldbusse).

Eine weitere Besonderheit des schweizerischen Systems stellen die Befugnisse von Jugendanwaltschaft (Deutschschweiz) respektive Jugendrichter und Jugendrichterinnen (Westschweiz/Tessin) dar. Sie sind Untersuchungs- und Anklage- als auch Vollzugsbehörde und haben Entscheidungskompetenz über die meisten Sanktionen.

Die Vorteile des schweizerischen Jugendstrafsystems werden vor allem in der Flexibilität und Einzelfallprüfung gesehen. Potenzielle Nachteile bestehen darin, dass juristischen Fachpersonen häufig der fachliche Hintergrund zur Beurteilung erzieherischer Massnahmen fehlt und die Rahmenbedingungen für die Festlegung und Beurteilung von Sanktionen nur schwach geregelt sind. Da die Rückfallquote in der Schweiz im internationalen Vergleich eher tiefer liegt, wird das schweizerische Jugendstrafsystem mehrheitlich positiv diskutiert.

Während von 1999 bis 2009 die Anzahl der in der Schweiz verurteilten Jugendlichen jährlich zunahm, verringern sich die Zahlen seit 2010 kontinuierlich. So scheinen erzieherisch motivierte Präventions- und Interventionskonzepte gegenüber abweichendem Verhalten Wirkung zu zeigen. Weiter herausfordernd ist die frühzeitige Identifizierung von Risikogruppen und die Entwicklung geeigneter Reaktionen bei den persistenten Tatpersonen. Ferner entstehen mit der zunehmenden Media­tisierung von Lebenswelten neue Formen der Devianz wie Cyberbullying (Verleumdung oder Belästigung via digitale Kommunikationsmittel) oder Sexting (Teilen von intimen Fotos via digitale Kommunikationsmittel), für die erst noch angemessene Reaktionsformen erarbeitet werden müssen.

Literaturhinweise

Pruin, I., Aebersold, P. & Weber, J. (2017). Switzerland. In S.H. Decker & N. Marteache (Eds.), International handbook of juvenile justice (2nd ed., pp. 473–494). Cham: Springer.

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