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Jugendstrafrecht

Nicolas Queloz

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

In der Schweiz gilt heute ein vereinheitlichtes Jugendstrafrecht, das aus zwei Bundesgesetzen besteht: dem Jugendstrafgesetz (JStG, seit 2007) und der Jugendstrafprozessordnung (JStPO, seit 2011). Das Jugendstrafgesetz ist ein Sondergesetz, das sich vom Strafrecht für Erwachsene unterscheidet und die strafrechtlichen Sanktionen (Schutzmassnahmen und Strafen) für Minderjährige, das heisst für Personen im Alter von 10 bis 18 Jahren, regelt. Auch die Jugendstrafprozessordnung stellt ein Sondergesetz dar und unterscheidet sich von der Strafprozessordnung für Erwachsene. Seit 1911 existieren in der Schweiz spezialisierte Jugendgerichte auf kantonaler Ebene. In der vereinheitlichten Jugendstrafprozessordnung wurde die kantonale Regelung der Jugend­justiz beibehalten, die hauptsächlich auf zwei Modellen basiert: dem Juge des Mineurs in der Westschweiz und der Jugendanwaltschaft oder Jugendstaatsanwaltschaft in der Deutschschweiz und im Tessin.

Das Schweizer Jugendstrafrecht steht im Rahmen internationaler Normen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (1974 von der Schweiz ratifiziert) und der UN-Kinderrechtskonvention (1997 ratifiziert).

Folgende Grundprinzipien gelten im Schweizer Jugendstrafrecht:Strafrechtliche Sanktionen sind nur möglich, wenn Personen «zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begangen haben» (Art. 3 JStG). Welche Handlungen strafbar sind, wird durch das ordentliche Strafrecht (Strafgesetzbuch, Betäubungsmittelgesetz, Strassenverkehrsgesetz usw.) bestimmt.Im Mittelpunkt des Jugendstrafrechts steht die Täterin bzw. der Täter (Täterstrafrecht) und die persönliche Situation der straffälligen Person. Ein wesentliches Merkmal der Jugendjustiz ist daher das Prinzip des individuellen Sanktionierens. Ausserdem setzt das Jugendstrafgesetz die Schuld und die strafrechtliche Verantwortung der jungen Straffälligen als Bedingung voraus, damit eine Strafe verhängt werden kann.Das Jugendstrafrecht orientiert sich am Grundsatz der Erziehung der Jugendlichen und der Unterstützung ihrer Persönlichkeitsentwicklung (Art. 2 JStG und Art. 4 JStPO).Daraus leitet sich das Prinzip ab, dass Schutzmassnahmen Vorrang vor Strafen haben, da dies den erzieherischen und therapeutischen Bedürfnissen der Minderjährigen besser Rechnung trägt. Ausserdem kann die Jugendjustiz während der Untersuchung vorsorgliche Schutzmassnahmen ­erlassen, wovon fast zwei Prozent der letztlich strafrechtlich verurteilten Minderjährigen betroffen sind.Das Jugendstrafgesetz hat ein optionales duales System eingeführt, das es erlaubt, zusätzlich zur Strafe eine Schutzmassnahme zu verhängen, wenn die Untersuchung der persönlichen Situation der minderjährigen Straffälligen zeigt, dass eine solche Massnahme erforderlich ist. Gemäss Michel Lachat kann der Jugendrichter aufgrund seiner pädagogischen Aufgaben des Erklärens, Zeigens und Überzeugens «zugleich als Vater und als Meister» bezeichnet werden.

Die der Jugendjustiz zur Verfügung stehenden Schutzmassnahmen sind, in zunehmender Schwere des Eingriffs: die Aufsicht (das Recht, die erzieherische Betreuung durch die Eltern von aussen zu verfolgen), die persönliche Betreuung (diese mit der zivilrechtlichen Vormundschaft vergleichbare Massnahme wird am häufigsten verhängt), die ambulante Be­-hand­lung (die sozialpädagogische und/oder therapeutische Behandlung in offenen Einrichtungen) und die Unterbringung (in einer Pflegefamilie oder in einer Einrichtung). 2015 wurden zudem Massnahmen (mit Sicherheitscharakter) eingeführt, die ein Tätigkeits-, Kontakt- oder Rayonverbot betreffen.

Im Bereich der Strafen spielen im Jugendstrafgesetz die Möglichkeiten der Strafbefreiung eine wichtige Rolle. Das Jugendgericht kann insbesondere von einer Bestrafung absehen (und auf die Strafverfolgung verzichten), wenn die begangene Handlung von geringer Schwere ist, wenn die jugendliche Person den verursachten Schaden selbst wiedergutgemacht hat, wenn sie direkt von den Folgen ihrer Handlung schwer betroffen ist oder wenn sie von ihren Eltern in ausreichender Weise bestraft worden ist (Art. 21 JStG). Die Strafen sind in zunehmender Strenge: der Verweis (oder die förmliche Missbilligung der Tat); die persönliche Leistung (auch für Jugendliche die am häufigsten ausgesprochene Strafe), das heisst die Verpflichtung, gemeinnützige Arbeit zu leisten oder Kurse zu besuchen (zum Beispiel in der Suchtprävention); ab dem vollendeten 15. Altersjahr die Busse (bis zu 2 000 Franken, wenn die minderjährige Person über eine Einnahmequelle verfügt); und der Freiheitsentzug (Dauer von einem Tag bis zu einem Jahr); kann jedoch bei Minderjährigen über 16 Jahren, die schwerwiegende Taten begangen haben, bis zu vier Jahre betragen. Der Vollzug der persönlichen Leistung, der Busse oder des Freiheitsentzugs von höchstens 30 Monaten kann (ganz oder teilweise) auf Bewährung aufgeschoben werden, wenn das Gericht der Ansicht ist, dass kein Rückfallrisiko besteht.

Die Schutzmassnahmen sind unbefristet und können sich bis zum Erreichen des 25. Altersjahres erstrecken. Im Gegensatz dazu werden die Strafen mit einer festgelegten Dauer und Frist (Vollzugstermin) ausgesprochen. Aus diesem Grund ziehen die Minderjährigen es oft vor, «bestraft» statt «geschützt» zu werden.

In der Praxis verhängt die Schweizer Jugendstrafjustiz viel häufiger Strafen als Massnahmen (rund 95 % Strafen, 5 % Massnahmen). Die Strafurteile betreffen vor allem Knaben (im Jahresdurchschnitt 78 % seit 2007), Jugendliche von mindestens 15 Jahren (77 %) und Jugendliche schweizerischer Nationalität (68 % Schweizer Jugendliche, 24 % ausländische Jugendliche mit Wohnsitz in der Schweiz, 4 % minderjährige Asylbewerberinnen und Asylbewerber, 3,5 % ausländische Minderjährige mit Wohnsitz im Ausland).

Das schweizerische Jugendstrafrecht setzt sich aus einer Mischung der folgenden Modelle der Jugendjustiz zusammen, die seit Ende des 19. Jh. entstanden sind:Das Modell der Erziehung und des Schutzes straffällig gewordener Jugendlicher (oder Rehabilitationsmodell), das die Verhängung von Erziehungs- und Therapiemassnahmen, aber auch die Wahl der geeigneten Art von Strafe prägt;Das Modell der Gewährleistung der Rechte von Kindern und Jugendlichen, das in den 1980er Jahren durch die Vereinten Nationen lanciert wurde und 1989 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes führte;Das Diversionsmodell, das nebst dem Verzicht auf die Strafverfolgung bei erfolgreichem Verlauf der Vergleichs- (Art. 16 JStPO) oder Mediationsverfahren (Art. 17 JStPO) sowie bei Erfüllung der weitläufigen Bedingungen für die Strafbefreiung auch die Verhängung der einfachen Strafe des Verweises als Warnung umfasst;Das Reparationsmodell, das nebst der Schlichtung, der Mediation und der Strafbefreiung hauptsächlich die Verhängung der Strafe der persönlichen Leistung betrifft;Das Repressionsmodell, das vor allem mit den Freiheitsstrafen zum Ausdruck kommt.

Die sukzessive Zusammenführung dieser Modelle hat zu einem sehr viel weniger paternalistischen (Strafen zum Wohle der Jugendlichen) und ausgesprochen legalistischen (Strafen unter Achtung der Rechte der Jugendlichen) Ansatz in der Jugendjustiz geführt.

In Deutschland, einem Land, das nicht für ein besonders scharfes Jugendstrafrecht bekannt ist, können Minderjährige (ab 14 Jahren), die schwere Straftaten gegen Leib und Leben oder gegen die sexuelle Integrität begangen haben und bei denen ein hohes Rückfallrisiko besteht, zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sieben und höchstens zehn Jahren sowie zu einer (subsidiären) Sicherungsverwahrung verurteilt werden. Die Schweiz – und dies ist ein Glücksfall, der unbedingt verteidigt werden sollte – pflegt weiterhin ein offenes Jugendstrafrecht, das «den Lebens- und Familienverhältnissen des Jugendlichen sowie der Entwicklung seiner Persönlichkeit» besondere Beachtung schenkt (Art. 2 Abs. 2 JStG), was es bisher ermöglicht hat, repressiven und sicherheitspolitischen Sirenengesängen zu widerstehen.

Literaturhinweise

Queloz, N. (Éd.) (2018). Droit pénal et justice des mineurs en Suisse: commentaire du DPMin et de la PPMin. Zurich: Schulthess.

Repond, M. (2012). Michel Lachat: le juge et les mineurs. Freiburg: Editions La Sarine.

Riedo, C. (2013). Jugendstrafrecht und Jugendstrafprozessrecht. Basel: Helbing Lichtenhahn.

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