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Katholische Soziallehre

Paul H. Dembinski

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Beiträge zur Sozialethik aus christlicher und katholischer Sicht lassen sich in drei Kategorien gliedern: das Sozialdenken, die Lehre und die Doktrin. Das christliche Sozialdenken ist ein Sammelbecken, in welches Christinnen und Christen, die im gesellschaftlichen Leben aktiv sind, ihre Ideen und Analysen einbringen. Die Soziallehre greift auf dieses Reservoir zurück, um verbindliche Richtlinien zu formulieren und eine dem Glauben angemessene und zeitnahe Interpretation des sozialen Kontexts zu liefern, der jedem Abschnitt der Menschheitsgeschichte eigen ist. Die Sozialdoktrin – eine Eigenheit der katholischen Kirche – bietet eine ausformulierte, jedoch nie abgeschlossene Zusammenfassung der katholischen Soziallehre.

Die katholische Soziallehre ruht auf drei Säulen: Zentrale anthropologische Prämisse ist der nach dem Bild Gottes geschaffene Mensch, der den höchsten, unantastbaren Wert darstellt. Jeder Mensch ist einzigartig und bildet den ultimativen Bezugspunkt der sozialen Realität, die seine ganzheitliche Entwicklung, sowohl in spiritueller als auch in materieller Hinsicht, ermöglichen muss. Aus der zentralen Stellung des Menschen leitet sich direkt die Bedeutung der Familie ab. Das Gemeinwohl: Über die Familie hinaus ist der Mensch Mitglied der menschlichen Gemeinschaft. Als solcher beteiligt er sich auf natürliche Weise an der Erzeugung des Gemeinwohls, dessen Begünstigter er zugleich ist. Das Gemeinwohl lässt sich nicht auf das Allgemeininteresse der heutigen Wirtschafts- oder Politikwissenschaftler reduzieren, denn es zielt gleichzeitig auf das Wohl jedes Menschen und das Wohl der Gemeinschaft ab. Der eschatologische Horizont stellt die katholische Soziallehre in die Perspektive der letzten Dinge des Menschen. Es geht nicht darum, das Paradies auf Erden zu schaffen oder das menschliche Leiden zu leugnen, sondern es der Menschheit zu ermöglichen, jenseits der Wechselfälle der Geschichte Erlösung zu finden.

Die Soziallehre entwickelt sich im Zeitverlauf im Zuge der Ereignisse, für die sie Analysen vorlegt und Handlungsmöglichkeiten vorschlägt. Ihre Ausarbeitung stützt sich auf Beiträge nicht nur des christlichen Sozialdenkens, sondern auch der Human- und Sozialwissenschaften. In der katholischen Kirche schlägt sich die Soziallehre vorwiegend in Form von Sozialenzykliken und Briefen der Bischofskonferenzen nieder. Die Soziallehre der katholischen Kirche konkretisiert sich in der Abfolge von Sozialenzykliken, die den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen der jeweiligen Zeit gewidmet sind. Fünf Enzykliken haben einen besonders prägenden und dauerhaften Eindruck hinterlassen

Rerum novarum (Die neuen Dinge, 1891), die von Papst Leo XIII. verfasste erste Sozial­enzyklika der Neuzeit, befasst sich mit den beispiellosen sozialen Herausforderungen der industriellen Revolution und insbesondere mit dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Das Dokument prangert die Ausbeutung an, welche die industrielle Revolution mit sich gebracht hat, befürwortet aber nicht die Konfrontation und den Klassenkampf, zu dem das sechs Monate nach der Enzyklika veröffentlichte, erste marxistische Programm aufruft. Der Papst betont die natürliche Komplementarität und unerlässliche Verständigung zwischen Kapital und Arbeit. Er ruft zur Gründung christlicher Gewerkschaften und zu Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebenden auf, die er gleichzeitig ermahnt. Die Enzyklika hebt die unabdingbare Autonomie der Familien gegenüber dem Staat hervor, die durch das Privateigentum und angemessene Löhne gewährleistet werden soll. Rerum novarum führt ausserdem die beiden Prinzipien ein, die bei allen folgenden Entwicklungen im Zentrum stehen: das Prinzip der Solidarität und das Prinzip der Subsidiarität.

Im Mai 1967, hundert Jahre nach der Veröffentlichung des Kapitals, veröffentlicht Paul VI. die Enzyklika Populorum progressio (Der Fortschritt der Völker), die er den Herausforderungen der Entwicklung im Nachgang zur Dekolonisierung in einer globalisierten Welt widmet. Paul VI. unterstreicht darin: «Die soziale Frage ist weltweit geworden.» Die Enzyklika ist von der Sorge um soziale Gerechtigkeit geprägt, wobei sich das Problem der Entwicklung jedoch nicht auf die Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen allein reduzieren lässt. Es geht darum, Bedingungen für eine «umfassende Entwicklung des Menschen», sowohl auf materieller als auch auf spiritueller Ebene, zu schaffen. Der Papst äussert seine Besorgnis über die zunehmenden quantitativen, mit dem Haben (Wachstum) verbundenen Überlegungen gegenüber qualitativen Aspekten des Seins.

1991, zwei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, erscheint in direktem Bezug zum hundertjährigen Jubiläum von Rerum novarum die Enzyklika von Johannes Paul II. Centesimus annus (Das hundertste Jahr). Kurz nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Totalitarismus gibt der Papst eine Übersicht über die Probleme und Herausforderungen, mit denen der siegreiche Liberalismus konfrontiert ist. Die Enzyklika erinnert mit Nachdruck an den Grundsatz der universalen Bestimmung der Güter, welcher gleichbedeutend mit dem Begriff der «sozialen Hypothek» ist. Diese Hypothek lastet auf allem Eigentum und verpflichtet dazu, das Eigentum in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen. Das Dokument erwähnt erstmals die Bedeutung der unternehmerischen Freiheit, erinnert aber auch daran, dass die Freiheit weitere Dimensionen umfasst und als Ganzes erhalten werden muss. Schliesslich werden die zentrale Rolle der Familie in der Entwicklung des Menschen und die Gefahren, denen sie in der Konsumgesellschaft ausgesetzt ist, unterstrichen.

Auf den vierzigsten Jahrestag von Populorum progressio wurde 2007 eine Sozialenzyk­lika von Benedikt XVI. erwartet, doch infolge der Finanzkrise erschien sie erst 2009 Caritas in veritate (Die Liebe in der Wahrheit). Die Enzyklika hebt drei Punkte hervor: Erstens wird die Bedeutung solider anthropologischer Grundlagen für jegliche soziale und wirtschaftliche Theorie betont. Mit Verweis auf die unantastbare Würde des Menschen wird die anthropologische Schwäche des dominierenden ökonomischen Diskurses verdeutlicht. Zweitens muss jeder wirtschaftliche Austausch ein Element der Unentgeltlichkeit enthalten, um menschlich zu bleiben. Ohne Geschenk und Gegenseitigkeit läuft die Wirtschafts- und Finanzwelt Gefahr, ihre Protagonisten zu entmenschlichen. Als Drittes greift Benedikt XVI. die Frage der Global Governance auf, die bereits Paul VI. und Johannes Paul II. angesprochen hatten, und fordert die Schaffung einer «politischen Weltautorität», die dringend nötig ist, um die globalen Probleme, insbesondere die von der Finanzkrise verursachten, zu lösen.

2015 veröffentlicht Papst Franziskus Laudato si’ (Gelobt seist du). Diese Enzyklika geht von der Diagnose einer existenziellen Krise der Erde – «des gemeinsamen Hauses» – aus. Papst Franziskus schreibt: «Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozioökologische Krise. Die Wege zur Lösung erfordern einen ganzheitlichen Zugang, um die Armut zu bekämpfen, den Ausgeschlossenen ihre Würde zurückzugeben und sich zugleich um die Natur zu kümmern.» (Abs. 139). Die Antwort, die als «ganzheitliche Ökologie» bezeichnet wird, muss den sozialen und ökologischen Herausforderungen gerecht werden. Im Zentrum dieses Programms stehen die Sorge, die zur Schöpfung getragen werden muss, die universale Bestimmung der Güter und die vorrangige Option für die Ärmsten (ein weiteres wichtiges Prinzip der Sozialdoktrin der Kirche) als Mittel zur Bekämpfung von Ausgrenzung und Gleichgültigkeit. Der Papst kritisiert scharf die Allmacht des technokratischen Paradigmas und dessen Eingriffe in die Freiheit und Autonomie der Menschen.

Die Sozialdoktrin der Kirche hat in europäischen Ländern wie Deutschland, Spanien, Italien, der Schweiz und in jüngerer Zeit Polen einen starken Einfluss auf Politik, Institutionen und das Handeln im sozialen Bereich, insbesondere in der Familienpolitik, ausgeübt. Mit Bezug auf die Doktrin haben einige Länder sich auf das Subsidiaritätsprinzip (die Autonomie der Familien gegenüber dem Staat) berufen, um politische Entscheide zu rechtfertigen, die zu einem gewissen Grad dem Grundsatz der Solidarität zuwiderliefen. Auch in der Schweiz war dieser Trend festzustellen. Richtungsweisend war und ist die Soziallehre auch für die Gründung und das konkrete Handeln vieler Organisationen wie Caritas oder ATD Vierte Welt. Zahlreiche von der christlichen Soziallehre inspirierte Initiativen bestehen ausserdem im Bereich der Sonderpädagogik und in der Pflege, insbesondere zugunsten älterer Menschen. Erwähnenswert sind schliesslich die beiden Entwicklungshilfeorganisationen Fastenopfer (der katholischen Kirche) und Brot für alle (der evangelischen Kirchen).

Literaturhinweise

De Laubier, P. (1982). Das soziale Denken der Katholischen Kirche: ein geschichtliches Ideal von Leo XIII. zu Johannes Paul II. Fribourg: Universitätsverlag.

Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.) (2006). Kompendium der Soziallehre der Kirche. Freiburg i.B.: Herder.

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