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Kindesmisshandlung

Christophe Delay, Eric Paulus

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Seit der Begriff der Kindesmisshandlung Anfang der 1990er Jahre erstmals verwendet wurde, haben sich sowohl die Medizin als auch die Psychologie und die Erziehungswissenschaften um eine genaue Definition bemüht. Ungeachtet der unterschiedlichen Standpunkte der Disziplinen sind sich die Fachleute darin einig, dass es sich um einen unscharf abgegrenzten Sammelbegriff handelt. In den Handbüchern hat sich eine gemeinsame Definition durchgesetzt, die sich an die Formulierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anlehnt und den Fachleuten in den verschiedenen Sektoren, die sich mit der Aufdeckung von Kindesmissbrauch und dem Kinderschutz beschäftigen, als Richtlinie dient: Kindesmisshandlung umfasst demnach physische und psychische Gewalt sowie Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch in der familiären Umgebung, soweit diese «die Gesundheit, das Leben, die Entwicklung oder die Würde des Kindes beeinträchtigen oder bedrohen».

Wie viele Fälle von Kindesmissbrauch vorkommen, lässt sich nur schwer abschätzen, und in der Schweiz sind diesbezüglich diverse Koordinationsprojekte im Gang. Bekannt ist, dass sich die Zahl der Fälle, die der Kinderfürsorge gemeldet werden, von 1990 bis 2015 signifikant erhöht hat. In Genf stieg die Zahl der vom Jugendgesundheitsdienst verzeichneten Missbrauchsfälle von zwölf im Jahr 1989 auf 300 im Jahr 2000. Ein solcher Anstieg lässt sich etwa auch in Frankreich beobachten.

Der Schutz der Kinder zählt zu den ältesten Aufgaben des Wohlfahrtsstaats und wurde in den letzten Jahrzehnten laufend verbessert. Kinderschutz ist aber keine Selbstverständlichkeit, sondern wurde in der Schweiz (und in Europa) erst durch die Verabschiedung der entsprechenden Gesetze möglich. In Genf wurde am 20. Mai 1891 ein Gesetz erlassen, das es erlaubte, «unwürdigen» Eltern das elterliche Sorgerecht zu entziehen. Zu jener Zeit wurde der Staat in den Worten Durkheims «ein Faktor im häuslichen Leben» und der «Kindesmissbrauch» ein normabweichendes Verhalten. Im Schweizerischen Zivilgesetzbuch wurde der Auftrag zum Kinderschutz im Jahr 1907 in Artikel 307 verankert. Dieser Artikel bildet bis heute das rechtliche Fundament, auf das sich die für den Kinderschutz zuständigen Behörden gegenüber den Familien stützen.

Bis 1960 interessierte sich die Öffentlichkeit vorwiegend für das Thema Jugendkriminalität, während «Fälle von Kindesmissbrauch» kaum Aufmerksamkeit erregten. Der Begriff des Kindesmissbrauchs, um «Handlungen zu beschreiben und einzuordnen», erschien erstmals 1962 in den Vereinigten Staaten, als eine Gruppe von Kinderärzten um Henry Kempe ihre Beobachtungen wiederholter Verletzungen von Kleinkindern veröffentlichten. Das Interesse sprang rasch nach Europa und anschliessend dank internationaler Konferenzen in die südliche Hemisphäre über. Zusätzliche Prominenz gewann das Thema durch die Annahme der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Darin werden Kinder als Rechtssubjekte anerkannt, die in einem bestimmten Lebensabschnitt über besondere Rechte verfügen. Zu diesen Rechten gehört insbesondere der Anspruch, vor jeder Art von Gewalt und Misshandlung geschützt zu werden, aber auch das Recht auf Anhörung und Meinungsäusserung zu allen Angelegenheiten, die die übergeordneten Interessen des Kindes während seiner Minderjährigkeit betreffen.

Schritt um Schritt fand das Thema in der Schweiz Eingang in die Institutionen: 1992 erschien ein Bericht über Kindesmisshandlung, der erstmals «das Ausmass des Problems der Kindesmisshandlung» hervorhob sowie eine «zu späte Erkennung und ungenügende Massnahmen» anprangerte. Der Bundesrat anerkannte 1995 die Kindesmisshandlung als «politisches Thema von nationaler Bedeutung» und ratifizierte 1997 die UN-Kinderrechtskonvention. Erfolglos blieb hingegen die im Bericht von 1992 vorgebrachte Forderung der Fachleute, das Verbot von Körperstrafen in die Bundesverfassung aufzunehmen. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern hat die Schweiz es ebenso wie Frankreich oder Italien bisher abgelehnt, die Körperstrafe zu verbieten und die gewaltfreie Erziehung rechtlich vorzuschreiben.

Die Kinderrechtskonvention hatte zur Folge, dass die «Bekämpfung der Kindesmisshandlung» ab 1990 in der Öffentlichkeit auf vermehrte Unterstützung stiess. Diverse Akteure beteiligten sich daran, neue inakzeptable Verhaltensweisen zu definieren: Politikerinnen und Politiker leiteten das soziale Problem mittels der Einreichung von Vorstössen in formale Kanäle, die Ärzteschaft organisierte sich, um neue Erkennungsverfahren einzuführen, für das Lehrpersonal wurden Schulungen eingerichtet und die Justizbehörden boten den Sozialarbeiterinnen und -arbeitern neue, erleichterte Meldemöglichkeiten ohne «vorgängige Gewissheit» an. Gleichzeitig erfuhr die Definition der Kindesmisshandlung gewisse Änderungen, was ihren konstruierten Charakter deutlich erkennen lässt. Ab 1999 wurden auch Risikofaktoren für Misshandlungen (d. h. «Lebensbedingungen eines Kindes, die seine Gesundheit gefährden könnten») berücksichtigt, wodurch die Reichweite des Begriffs erheblich ausgeweitet wurde. Dies hatte eine verschärfte Aufmerksamkeit der Kinderschutzbeauftragten in den vergangenen Jahrzehnten zur Folge, was den massiven Anstieg gemeldeter Fälle von Kindesmisshandlung in den Schweizer Kantonen erklärt.

Da sich die Bekämpfung der Kindesmisshandlung auf deren Erkennung fokussiert, ist die Überwachung der Familien durch die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Doch aus soziologischer Sicht umfasst Misshandlung nebst der moralischen und kriminellen Dimension auch eine soziale Dimension, die oft selbst von Fachleuten vernachlässigt wird: die Ungleichheit der materiellen und kulturellen Ressourcen, die den Zugang zum neuen legitimen Erziehungsmodell ermöglicht. Untersuchungen zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Familien, in denen es zu Misshandlungen kommt, zu denjenigen Teilen der Unterschicht gehört, die über das geringste kulturelle Kapital verfügen. Diese Familien tendieren – aufgrund ihrer Lebensbedingungen – weiterhin zu «autoritären» Erziehungsmodellen und stehen dem Modell der ausgehandelten Autorität und kontrollierten Autonomie fern, das die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter präsentieren und das zu den erzieherischen Werten und den Lebensweisen der neuen Teile der Mittelschicht passt, mit denen sie objektiv verbunden sind.

Die Erziehungsmethoden sind umso rigider strukturiert, je mehr Menschen sich einen Wohnraum teilen müssen. Diese Methoden entspringen einer gewissen Notwendigkeit, denn sie erlauben es, das Leben der Familien zu organisieren: Die Durchsetzung des Gehorsams macht es möglich, dass mehrere Generationen in denselben Räumen zusammenleben. Dass es an den Schaltern der Kinderschutzdienste zu Situationen der Verständnislosigkeit kommt, ist unter diesen Umständen kaum überraschend. Geschichtswissenschaftlichen Studien zufolge verbreitete sich das neue, freizügigere und weniger autoritäre Erziehungsmodell, das in den Jahren des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit in Europa aufkam, ungleichmässig von den freiberuflich Tätigen zu den Arbeiterinnen und Arbeitern, denen es nur unter erheblichen Schwierigkeiten gelang, sich an diese neuen Normen anzupassen. Wenn sich die Erziehungsnormen der Unterschicht heute denen der mittleren Schichten annähern, so dürfte dies auf den lange anhaltenden Kontakt mit den Sozialarbeiterinnen und -arbeitern zurückzuführen sein, deren tägliche Arbeit den Prozess der Akkulturation an dominante Normen fördert. Es muss jedoch betont werden, dass diese Frage der Erziehungsnormen – mehr oder weniger freizügig oder autoritär – vermutlich nicht für alle Formen des Missbrauchs, einschliesslich des sexuellen Missbrauchs, gleichermassen gilt. Die soziologische Perspektive erinnert jedenfalls daran, dass sich Massnahmen zur Bekämpfung der Kindesmisshandlung nicht ausschliesslich auf innerfamiliäre Faktoren, welche die Kinder gefährden, beschränken dürfen, sondern auch Massnahmen zur Unterstützung der Familien (Krippen, Zugang zu Wohnungen, Steuersystem) und zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Unsicherheit miteinbeziehen müssen.

Literaturhinweise

Arbeitsgruppe Kindesmisshandlung (1992). Kindesmisshandlung in der Schweiz: Schlussbericht. Bern: Eidgenössisches Departement des Innern.

Hacking, I. (1999). Kind-making: the case of child abuse. In I. Hacking, The social construction of what? (pp. 125–162). Cambridge: Harvard University Press, 1999).

Schultheis, F., Frauenfelder, A. & Delay, C. (2007). Maltraitance: contribution à une sociologie de l’intolérable. Paris: L’Harmattan.

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