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Kindheit und Jugend

Olivier Steiner, Rahel Heeg


Erstveröffentlicht: December 2020

Kindheit und Jugend sind Bezeichnungen für Lebensphasen, die über körperliche, soziale und psychische Kriterien definiert werden. Häufig wird als Anfang von Kindheit die Geburt und als Endpunkt die beginnende Veränderung der Genitalorgane (Pubertät) bezeichnet. Jugend definiert sich in dieser Sichtweise beginnend mit der körperlichen Veränderung der Genitalorgane und endend mit der vollständigen körperlichen Reifung. Die Begriffe Kindheit und Jugend verweisen zudem auf Statusunterschiede zwischen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen, die durch gesellschaftliche Institutionen hervorgebracht wurden. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1874 und dem Verbot der Kinderarbeit (Fabrikgesetz 1877) waren es soziale und sozialpolitische Reformen, die in der Schweiz entscheidende Beiträge dazu geleistet haben, dass sich Kindheit und Jugend als eigenständiger Sozialstatus herausbilden konnte.

Kulturell erhielt Kindheit erst im Übergang in die Neuzeit den Status als eigenständige Phase des Menschseins. Im Laufe der Industrialisierung entstanden gesonderte Lebenssphären für alle Kinder und Jugendlichen (insbesondere in Schulen). Ab dem 18. Jh. beschäftigte sich die Pädagogik intensiv mit Fragen des Aufwachsens und der Erziehung, ab dem 19. Jh. erweiterte sich die Bedeutung von Kindheit von Erziehungs- zu Lernzeit. Ab dem 20. Jh. wurden Kinder vermehrt als Individuen wahrgenommen. So entstanden auch im Zuge der Jugendbewegungen romantisierende Diskurse zu Kindheit und Jugend. Diese veränderten Wahrnehmungen standen in engem Zusammenhang mit sozialem Wandel, wie u. a. einem intimeren familialen Zusammenleben und der Entstehung von öffentlichen Einrichtungen mit der spezifischen Aufgabe der Pflege, Erziehung und Bildung von Kindern (Schulen, fürsorgerische Einrichtungen).

Mit dem Ausbau von Wohlfahrtsstaat und Bildungssystem geht eine Ausdifferenzierung der Rechte und Pflichten zwischen Staat, Eltern (bzw. Sorgeberechtigten) und Kindern/Jugendlichen einher. Entsprechende sozial­politische Regelungen beziehen sich vornehmlich auf Fragen der materiellen Absicherung von Kindern und Jugendlichen, ihren Zugang zum Bildungs- und Ausbildungssystem und zunehmend auf ihren Schutz und ihre Förderung. Besondere Bedeutung für die Gestaltung der Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen haben neben der Kinder- und Jugendpolitik und der Familienpolitik die Bildungspolitik, Beschäftigungspolitik, Migrationspolitik sowie die Ausgestaltung der Versicherungswerke (AHV, IV). Seit den 2000er Jahren tritt der Bund vermehrt als Akteur der Familienpolitik wie auch der Kinder- und Jugendpolitik auf.

Zu den wichtigsten familienpolitischen Massnahmen des Bundes gehören das Impuls­programm zur Förderung von Tagesbetreuungsplätzen für Kinder (2002), die Einführung der Mutterschaftsversicherung (2005) sowie die Einführung von Familienzulagen (2006) und Bundesbeiträgen zur Prämienverbilligung in der Krankenversicherung (2007). Hinsichtlich der Finanzierung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen wird somit zunehmend eine gesellschaftliche Verantwortung gesehen. Das Angebot an Betreuungsplätzen hat sich seit Einführung (des mehrfach verlängerten) Impulsprogramms deutlich vergrössert, ist im internationalen Vergleich aber immer noch gering. Die Angebote variieren regional stark und sind mehrheitlich mit hohen Kosten für die Eltern verbunden.

Kinder- und Jugendpolitik wird im Bundesratsbericht «Strategie für eine schweizerische Kinder- und Jugendpolitik» von 2008 als Politik des Schutzes, der Förderung und der Mitwirkung konzipiert. Der Bericht unterscheidet Kinder- und Jugendpolitik im engeren und im weiteren Sinne. Im engeren Sinne werden darin politische Aktivitäten gefasst, welche die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen unmittelbar gestalten. Kinder- und Jugendpolitik im weiteren Sinn meint das Einbringen der Anliegen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in verschiedene Politikbereiche. Die schweizerische Kinder- und Jugendpolitik ist geprägt durch die föderale Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. Zuständig sind in erster Linie die Kantone und Gemeinden. Aufgrund dessen variieren Angebote und Leistungen für Kinder und Jugendliche wie auch ihre Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten stark. Der Bund nimmt seine Aufgaben subsidiär wahr.

Die Betonung von Förderung und Mitwirkung im Kinder- und Jugendförderungsgesetz (KJFG) markiert ein verändertes Verständnis von Kindheit und Jugend. Kinder und Jugendliche werden vermehrt als aktive Akteurinnen und Akteure in politischen Prozessen verstanden, diese sollen Gelegenheiten erhalten, autonomes, verantwortungsvolles und demokratisches Handeln einzuüben.

Unter Kinder- und Jugendschutz werden Massnahmen verstanden, welche die physische und psychische Integrität und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen schützen sollen. Im Rahmen der Reform des Zivilgesetzbuches von 2013 wurden die Anhörungsrechte von Kindern und Jugendlichen im Kindesschutz gestärkt und handelt in allen zivilrechtlichen Anordnungen eine multiprofessionelle Behörde (Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde KESB). Der Schutz von Kindern und Jugendlichen erhält dadurch erhöhten Stellenwert. Insbesondere das Anhörungsrecht von Kindern und Jugendlichen charakterisiert diese als eigenständige gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure mit einem eigenen Status als Rechtssubjekte, deren Sichtweise relevant und in staatlichem Handeln einzubeziehen ist.

Erwähnenswert sind hier auch die Besonderheiten des Schweizerischen Jugendstrafrechts, welches den Fokus auf erzieherische Massnahmen legt. Hiermit wird Kindheit und Jugend als jeweils individueller Entwicklungsprozess begriffen, für dessen positiven Verlauf eine gesellschaftliche Verantwortung besteht.

Auf Bundesebene wird Förderaspekten von Kindern und Jugendlichen in neuerer Zeit grosses Gewicht zugemessen. Auf kantonaler und kommunaler Ebene ist die Kinder- und Jugendförderung heterogen ausgestaltet. Im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien ist die Schweizer Familienpolitik trotz Expansion in den letzten 20 Jahren unterentwickelt. Hierin wird eine schweizerische Spezifika des Bildes von Kindheit und Jugend sichtbar: Kinder und Jugendliche sollen in sozialliberalem Verständnis zwar vermehrt an politischer Entscheidungsbildung beteiligt werden, gleichzeitig bleiben Familien in wirtschaftsliberalem Verständnis weitgehend selber verantwortlich für die Finanzierung und Betreuung ihrer Kinder. Weitere schweizerische Besonderheiten sind die im internationalen Vergleich niedrige Studierendenquote sowie die bedeutende Rolle der Berufsausbildung auf der Sekundarstufe II und ein darauf bezogenes bundesweites, stark ausgebautes Übergangsregime mit der Zielsetzung, 95 % aller Jahrgänge bis zum 25. Altersjahr in die Erwerbsarbeit zu integrieren. Die zunehmende Institutionalisierung des Übergangs in die Erwerbsarbeit sowie verlängerte und diskontinuierliche Bildungsverläufe führen zu neuen Anforderungen für Jugend­liche – aber auch für die Kinder- und Jugendpolitik.

Herausforderungen der Kinder- und Jugendpolitik in der Schweiz bestehen aktuell insbesondere angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit, der Pluralisierung familialer Lebensformen sowie des technologischen Wandels. Insbesondere ist mit einer Armutsquote von 5 % und einer Armutsgefährdungsquote von 16 % nach wie vor ein relevanter Anteil Heranwachsender in der Schweiz von Armut betroffen. Armut im Kindesalter zieht unmittelbare und langfristige negative Folgen nach sich und gilt als zentrales Entwicklungsrisiko. Bedarf besteht in einer wissenschaftlich fundierten Sozialberichterstattung, die Grundlagen für Weiterentwicklungen der Kinder- und Jugendpolitik auf gesamtschweizerischer, kantonaler und lokaler Ebene bietet. Zudem bestehen weiterhin Defizite bezüglich der Chancen politischer Beteiligung von Kindern und Jugendlichen.

Literaturhinweise

Bundesamt für Sozialversicherungen (Hrsg.) (2014). Aktueller Stand der Kinder- und Jugendpolitik in der Schweiz. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Moser, J. (2008). Der schweizerische Wohlfahrtsstaat: zum Ausbau des sozialen Sicherungssystems. Frankfurt a.M.: Campus.

Poretti, M. (2015). Politiques locales de l’enfance et de la jeunesse en Suisse romande: état des lieux et enjeux. Sion: Centre interfacultaire en droits de l’enfant.

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