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Krankenversicherung

Anna Sax


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Krankenversicherung beinhaltet die Grund­versicherung und private Zusatzversicherungen. In der Grundversicherung bzw. sozialen Krankenversicherung sind alle Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz obligatorisch versichert. Sie gewährt Leistungen bei Krankheit, Unfällen und Mutterschaft. Die Versicherungsprämien werden pro Kopf erhoben («Kopfprämien») und variieren je nach Versicherungsgesellschaft, gewählter Selbstbeteiligung (Franchise), Versicherungsmodell und Wohnregion. In der sozialen Krankenversicherung hat das Krankheitsrisiko und die Inanspruchnahme von Leistungen keinen Einfluss auf die Höhe der Prämien, ebenso wenig wie das Haushaltseinkommen oder das Vermögen. Versicherte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen haben Anspruch auf Prämienverbilligungen. Für Leistungen, die nicht durch die soziale Krankenversicherung abgedeckt sind, können Zusatzversicherungen abgeschlossen werden. Für letztere gilt keine Aufnahmepflicht.

Grundlage für die soziale Krankenversicherung bildet das Krankenversicherungsgesetz (KVG), das seit 1996 in Kraft ist. Das KVG war das Resultat eines Kompromisses zwischen jenen, die eine staatliche, solidarisch finanzierte Versicherung befürworteten und jenen, die sich für mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung aussprachen. So gilt nun ein «regulierter Wettbewerb» mit Versicherungsobligatorium, Aufnahmepflicht, Gewinnverbot und einem einheitlichen Leistungskatalog. Private Versicherungsgesellschaften, die miteinander konkurrenzieren und ihre Prämien jeweils aufgrund der anfallenden Kosten festlegen, führen die soziale Krankenversicherung durch.

Mit dem KVG erhielt der Bund eine Reihe von neuen Kompetenzen zugewiesen, angefangen bei der Durchsetzung des Versicherungsobligatoriums bis hin zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen. Die soziale Krankenversicherung deckt zwar nur etwas mehr als ein Drittel der gesamten Gesundheitsausgaben, dennoch bildet sie den Kern der Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Von ihrer Ausgestaltung hängt nicht nur die Versorgungssicherheit der Bevölkerung ab, sondern auch das Einkommen einer grossen Zahl von Leistungserbringenden und Zulieferern für das Gesundheitswesen. Wegen der weit gehenden Kompetenzen des Bundes und der grossen wirtschaftlichen Bedeutung des Gesundheitswesens sind KVG-Revisionen stets von zähen politischen Auseinandersetzungen begleitet. Verschiedene, unterschiedlich potente Interessengruppen spielen darin eine Rolle.

Die Leistungen, die im Rahmen der sozialen Krankenversicherung zu erbringen sind, werden im KVG aufgeführt und in der Leistungsverordnung spezifiziert. Der Leistungskatalog umfasst nebst medizinischen und Pflegeleistungen abschliessende Listen für Arzneimittel (Spezialitätenliste), Analysen (Analysenliste) und Medizinalprodukte (Mittel- und Gegenständeliste) mit den jeweiligen Höchstvergütungspreisen. Auch die Zulassung von Leistungserbringenden zu Lasten der Grundversicherung wird im KVG geregelt. Die Kosten für zahnärztliche Behandlungen sind aus dem Leistungskatalog weitgehend ausgeschlossen.

Weiter überträgt das KVG dem Bund Kompetenzen im Bereich der Gestaltung der Prämien und der Tarife, der Qualitätssicherung und der Kostendämmung. Eine Voraussetzung für die Leistungen der Grundversicherung ist das so genannte «WZW-Prinzip»: Alle Leistungen müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Die Krankenversicherer können die Vergütung von Leistungen ablehnen, wenn diese Prinzipien nicht erfüllt sind.

Die Kantone sind zuständig für die Gewährung und Finanzierung von Prämienverbilligungen an Versicherte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Der Bund leistet ebenfalls einen Beitrag an die Prämienverbilligungen.

Das System der Kopfprämien zur Finanzierung der sozialen Krankenversicherung ist innerhalb Europas einmalig. In den meisten Ländern wird die Grundversorgung grösstenteils über Lohnbeiträge und/oder über direkte Steuern finanziert. Die einkommensunabhängigen Kopfprämien in der Schweiz führen zu einer stark regressiven Gesundheitsfinanzierung mit einem überdurchschnittlich hohen Beitrag von Personen mit kleinen und mittleren Einkommen. Wegen der unterschiedlichen kantonalen Regelungen zu den Prämienverbilligungen kommt es in einzelnen Kantonen bei Haushalten mit bescheidenen Einkommen zu Belastungen in der Höhe von 20 % und mehr des verfügbaren Haushaltseinkommens. Dennoch blieben politische Vorstösse zur Einführung einer einkommensabhängigen Gesundheitsfinanzierung bisher ohne Chance.

Das System der Wahlfranchisen ermöglicht es den Versicherten, ihre Versicherungsprämien zu reduzieren und dafür einen jährlichen Beitrag von bis zu 2 500 Franken aus eigener Tasche zu bezahlen. Damit wird die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken eingeschränkt, denn die Wahl einer hohen Franchise lohnt sich vor allem für Versicherte, die wenige Leistungen benötigen, während beispielsweise Menschen mit chronischen Erkrankungen höhere Prämien bezahlen. Seit einigen Jahren zeichnet sich eine Tendenz ab, dass auch Leute mit kleinen Einkommen hohe Franchisen wählen, um Krankenkassenprämien zu sparen, was immer öfter dazu führt, dass aus finanziellen Gründen auf Arztbesuche verzichtet wird oder diese aufgeschoben werden. Auch die Nicht-Übernahme von Zahnarztkosten durch die soziale Krankenversicherung führt zunehmend zu sozialen Härtefällen. So hat sich zwischen 2010 und 2016 der Anteil der Erwachsenen in der Schweiz, die aus finanziellen Gründen auf medizinische Leistungen verzichtet haben, von 10,3 auf 22,5 % erhöht. Das ist im Vergleich zu anderen Industrieländern ein sehr hoher Wert.

Das KVG erlaubt besondere Versicherungsformen, indem beispielsweise gegen eine Prämienreduktion eine Einschränkung der freien Arztwahl in Kauf genommen wird. Hausarztmodelle und HMO-Gruppenpraxen mit Budgetmitverantwortung koordinieren den Behandlungsablauf und üben gleichzeitig eine Gatekeeper-Funktion aus beim Zugang zu Spezialärztinnen oder -ärzten.

Die hohen und weiter steigenden Kopfprämien für die soziale Krankenversicherung bedeuten zusammen mit dem hohen Anteil an Selbstbeteiligungen eine grosse Herausforderung für die soziale Sicherheit in der Schweiz. Das System der Prämienverbilligungen ist nur punktuell in der Lage, Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen wirksam zu entlasten. Die Höhe der Beiträge, die Einkommensgrenzen und die Art der Antragstellung unterscheiden sich von Kanton zu Kanton. Viele Kantone haben zudem in den letzten Jahren im Rahmen von Sparprogrammen ihre Beiträge an die Prämienverbilligungen gekürzt.

Das Fehlen eines flächendeckenden Schutzes gegen Erwerbsausfall wegen Krankheit ist eine der letzten grösseren Lücken im sozialen Netz der Schweiz. Der Schutz ist abhängig von der Art der Beschäftigung, vom Arbeitgeber, vom Wohnort oder vom vorbestehenden Gesundheitszustand. Die meisten Arbeitgeber – aber nicht alle – schliessen auf privater Basis eine Taggeldversicherung für ihre Angestellten ab. Wer als Arbeitsloser oder Arbeitslose krank wird, verliert unter Umständen auch die Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Viele Betroffene realisieren erst, dass sie ungenügend gegen Erwerbsausfall versichert sind, wenn der Krankheitsfall bereits eingetreten ist. Das KVG beinhaltet zwar die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis eine kollektive oder individuelle Taggeldversicherung abzuschliessen. Das Gesetz schreibt jedoch keine Mindesthöhe des Taggeldes vor, weshalb die meisten Krankenversicherer nur minime Taggelder in der Höhe zwischen 6 und 40 Franken versichern. Die Taggeldversicherung nach KVG bietet keinen echten Lohnersatz und ist deshalb heute praktisch bedeutungslos.

Literaturhinweise

Indra, P., Januth, R. & Cueni, S. (2016). Krankenversicherung. In W. Oggier (Hrsg.), Gesundheitswesen Schweiz 2015–2017: eine aktuelle Übersicht (5., vollst. überarb. Aufl., S. 217–241). Bern: Huber.

Merçay, C. (2016). Expérience de la population âgée de 18 ans et plus avec le système de santé, situation en Suisse et comparaison internationale. Neuchâtel: Observatoire suisse de la santé.

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