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Langzeitarbeitslosigkeit

Fabio Losa

Originalversion in italienischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Begriff der «Langzeitarbeitslosigkeit» bezeichnet die Arbeitslosigkeit während eines Zeitraums von mindestens einem Jahr. Gemäss der administrativen Definition, die sich auf die Bestimmungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) stützt und die den Daten des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) zugrunde liegt, betrifft die Langzeitarbeitslosigkeit alle Personen, die seit mindestens zwölf Monaten bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) gemeldet sind (unabhängig davon, ob sie Arbeitslosengeld erhalten oder nicht) und für eine sofortige Vermittlung zur Verfügung stehen. Werden hingegen internationale Normen, insbesondere diejenigen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) angewendet, so gelten alle Personen als Langzeitarbeitslose, die zum Zeitpunkt der statistischen Erfassung seit mindestens einem Jahr arbeitslos waren, für die Vermittlung zur Verfügung stehen und nach einer Stelle suchen (unabhängig von ihrer Anmeldung bei einem RAV).

Die Langzeitarbeitslosen bilden eine Untergruppe der gesamten arbeitslosen Bevölkerung. Die Unterscheidung gegenüber den Kurzzeitarbeitslosen begründet sich durch die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Fortbestehens der Arbeitslosigkeit, insbesondere ab dem Zeitpunkt, an dem Langzeit­arbeitslose ihren Anspruch auf Taggelder verlieren. In einer Gesellschaft, in der die Arbeit eine zentrale soziale Norm darstellt, erleiden diese Menschen nicht nur den Verlust ihres Einkommens, sondern zudem eine tiefgreifende persönliche und soziale Ausgrenzung, die oft zu psychischen und physischen Gesundheitsproblemen führt.

Im politischen System der Schweiz setzt das AVIG den Bezugsrahmen für die Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenversicherung zielt darauf ab, das Risiko des Lohnausfalls vorübergehend zu decken und Arbeitslosen eine schnelle und nachhaltige Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, indem sie die Stellenvermittlung unterstützt und die Umschulung und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt durch gezielte aktive Massnahmen fördert. In dieser Hinsicht ist die Arbeitslosenversicherung ein zentrales Element im schweizerischen Sozialversicherungssystem, denn – falls sie tatsächlich wirksam ist – soll sie die Wahrscheinlichkeit verringern, dass eine Person in eine Situation der Langzeitarbeitslosigkeit gelangt, ausgesteuert wird und auf Sozialhilfe angewiesen ist. In gewissen Fällen wird die Aufgabe der (Wieder-)Eingliederung von Arbeitslosen gemeinsam mit anderen sozialpolitischen Institutionen und Instrumenten erfüllt wie beispielsweise der Sozialhilfe und der Invaliditätsversicherung im Fall von Stellensuchenden, die von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht sind, oder aber mit Institutionen, die für die Ausbildung und die Beschäftigungs­politik zuständig sind, im Fall von Ausländerinnen und Ausländern mit unzureichenden Qualifikationen oder Sprachkenntnissen sowie im Fall von Jugendlichen, die bei ihrer Ausbildung auf Schwierigkeiten stossen und Gefahr laufen, den Anschluss zu verlieren.

Zu den Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit (oft Scarring Effects genannt) gehören erhöhte Schwierigkeiten, eine Stelle, insbesondere eine feste, gut bezahlte Stelle, zu finden. Eine beträchtliche Zahl von Langzeitarbeitslosen sieht sich konfrontiert mit Unsicherheit und Prekarität in ihrer beruflichen Situation sowie mit der Notwendigkeit, Sozialhilfe zu beziehen. Zu den besonders gefährdeten Gruppen gehören unter anderem ältere Menschen, Personen ohne Ausbildung, Ausländerinnen und Ausländer (besonders aus Nicht-EU-Ländern) und Geschiedene. Die Arbeitslosenversicherung gewährt älteren Arbeitslosen eine zusätzliche Anzahl von Taggeldern vor der Aussteuerung. Diese Zahl wurde im Rahmen der restriktiven vierten Revision der Arbeitslosenversicherung, die 2011 in Kraft getreten ist, nicht verringert, mit dem Ziel, das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit nicht zu erhöhen.

Hinsichtlich der statistischen Erfassung der Langzeitarbeitslosigkeit sind die Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) des Bundesamtes für Statistik (BFS) den vom SECO erstellten Administrativdaten vorzuziehen. Die SAKE-Daten entsprechen internationalen Standards und beschränken sich nicht auf die angemeldeten Arbeitslosen, sondern umfassen auch Ausgesteuerte sowie Personen, die die Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeldern nicht erfüllen. Daher ermöglichen diese Zahlen Betrachtungen im internationalen Vergleich und eine bessere Quantifizierung sämtlicher Aspekte der Langzeitarbeitslosigkeit.

Im internationalen Vergleich (basierend auf SAKE-Daten) gehört die Schweiz zu den wenigen Ländern mit relativ niedrigen Arbeitslosenquoten, doch bei der Langzeitarbeitslosigkeit nimmt sie eine Zwischenposition zwischen Ländern mit niedrigen und mittleren Werten ein. Mit einer Arbeitslosenquote von 4,5 % (Eurostat-Daten, 2015) liegt sie hinter Island und Norwegen an dritter Stelle und unter dem Durchschnitt der 28 Länder der Europäischen Union (9,4 %) sowie ganz deutlich unter den negativen Spitzenwerten von Spanien, Griechenland und Mazedonien (22,1 % 24,1 % und 26,1 %). Mit einem Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen von 35,8 % belegt die Schweiz jedoch den zehnten Platz in der Rangliste, in der Island (12,4 %) den besten und Mazedonien (81,6 %) den letzten Platz belegen, wobei der Durchschnitt der 28 EU-Länder 48,3 % beträgt.

Die Ursachen der Arbeitslosigkeit liegen in der Konjunktur, der Funktionsweise des Arbeitsmarkts, dem Verhalten der Akteure im Arbeitsmarkt (Einzelpersonen, Unternehmen, vermittelnde Stellen) und dem technologischen Fortschritt, der strukturell eine zunehmende Automatisierung der manuellen Tätigkeiten und eine Diskrepanz zwischen den in den Unternehmen benötigten beruflichen Pro­filen und den vorhandenen Kompetenzen der Arbeitskräfte zur Folge hat. In diesem Zusammenhang werden zudem unter anderem die Lohnflexibilität, die Grosszügigkeit der Arbeitslosenversicherung, die geografische Mobilität der Arbeitssuchenden und die Bereitschaft der Unternehmen zur betrieblichen Weiterbildung erwähnt. Je länger die Arbeitslosigkeit andauert, umso schwieriger wird es, eine Stelle zu finden, was einerseits auf den Verlust von Fähigkeiten der Arbeitssuchenden zurückzuführen ist und andererseits auf die soziale Stigmatisierung, die nach wie vor einen Einfluss auf das Anstellungsverhalten der Unternehmen ausübt.

Die politische Agenda in der Schweiz konzentriert sich auf die Arbeitslosigkeit als Ganzes, ohne die spezifische Kategorie der Langzeitarbeitslosen gesondert zu behandeln. Die Debatte über Lösungen ist polarisiert zwischen denjenigen Kräften, die mehr Deregulierung des Arbeitsmarkts, flexiblere Arbeitsverträge und schärfere Einschränkungen des Zugangs zur Arbeitslosenunterstützung fordern, und auf der Gegenseite denjenigen, die Reformen des Aus- und Weiterbildungssystems, eine gezielte Unterstützung besonders vulnerabler Gruppen und eine bessere Zusammenarbeit zwischen den RAV und anderen Bereichen der sozialen Sicherheit, besonders der Sozialhilfe, verlangen. Angesichts der Alterung der Gesamtbevölkerung und der Erwerbstätigen und in Zusammenhang mit der besonderen Anfälligkeit älterer Menschen für Langzeitarbeitslosigkeit werden die älteren Arbeitnehmenden in der öffentlichen Debatte mit besonderer Aufmerksamkeit diskutiert. Die beschlossenen Überbrückungsleistungen könnten hier eine Verbesserung bringen.

Literaturhinweise

osa, F. B., Bigotta, M., Stephani, E. & Ritschard, G. (2014). D’où venons-nous? Que sommes-nous? Où allons-nous? Analyse des parcours professionnels des chômeurs de longue durée en Suisse. Giubiasco: Ufficio di statistica.

Sheldon, G. (1999). Die Langzeitarbeitslosigkeit in der Schweiz: Diagnose und Therapie. Bern: Haupt.

Wegmüller, J. S. & Keller, D. (2016). Risiko Langzeitarbeitslosigkeit: Die Bedeutung der Arbeitslosenversicherung. Soziale Sicherheit CHSS, 1, 11–17.

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