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Lebensende

Marc-Antoine Berthod

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Das Lebensende als Konzept lässt sich weder aus medizinischer noch aus sozialer Sicht genau definieren. In einem sehr begrenzten Sinne steht dieser Begriff für die Palliativ­pflege kranker Menschen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, bald zu sterben. In einer etwas weiter gefassten Definition bezieht er sich auf die Zeit zwischen der Diagnose einer möglicherweise tödlichen Erkrankung bis zum Tod der betroffenen Person. Da es sich nicht quantitativ objektivieren lässt, bezeichnet «Lebensende» jene Zeit, in der Menschen und ihre Angehörigen bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung eine individualisierte sozialmedizinische Betreuung benötigen, die sowohl ihre Bedürfnisse als auch die ihrer Angehörigen berücksichtigt.

Die Phase des Lebensendes wird vom Einzelnen und der Gesellschaft erst seit Mitte des 20. Jh. als neu wahrgenommen und als spezifische Zeit definiert. Dies lässt sich durch mehrere Faktoren erklären. Zunächst wurde in jener Zeit der Tod in den meisten Ländern begrifflich neu gefasst. Die neue Definition beruht auf dem «Hirntod» oder «Individualtod», der den irreversiblen Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen bezeichnet. Diese Neudefinition des Todesbegriffs ist insbesondere auf neue Reanimationsmöglichkeiten und die Transplantationsmedizin zurückzuführen. Sie wirft komplexe Fragen vor allem juristischer Natur auf, da sie sowohl das Konzept wie auch die Realität des Todes in einem mehr oder weniger begrenzten, allenfalls einige Zeit andauernden, Zeitraum begreift.

Medizinische Diagnostik und Behandlungen entwickelten und perfektionierten sich in der Folge. Es ist deshalb schwieriger geworden, den Zeitpunkt des Todes oder auch der Agonie zu bestimmen. Verbände und Bürgerbewegungen zum Schutz der Rechte und der Entscheidungsfreiheit von PatientInnen wurden gegründet zu Fragen wie: Reanimation ja oder nein? Wann dürfen die Maschinen abgeschaltet werden? Wem obliegt die Entscheidung darüber? Angesichts dieser Fragen haben sich die neuen Bewegungen zum Schutz der Würde der PatientInnen in zwei verschiedene Richtungen entwickelt. Die eine Seite setzt sich für individuelle Entscheidungsfreiheit und das Recht auf Sterbehilfe ein; die andere Seite unterstützt Palliativpflege, also schmerzlindernde Massnahmen, die den Tod nicht beschleunigen.

Auch die Charakteristika der Todesfälle haben sich im vergangenen Jahrhundert verändert. Die Kindersterblichkeit ist sehr stark gesunken und die Gesellschaft gealtert. In den meisten Ländern rechnet man mit einem starken Anstieg der Todesfälle, vor allem bei hochbetagten Menschen. In der Schweiz sind 85 % der Verstorbenen über 65 Jahre alt, und bereits heute liegt der Anteil der über 80-Jährigen bei 60 %. Aus demografischer Sicht entwickelt sich das Lebensende zu einem wichtigen Thema der öffentlichen Gesundheit, umso mehr, als die meisten Menschen in Betreuungseinrichtungen oder Spitälern und nicht, wie es der Wunsch vieler ist, im eigenen Zuhause versterben. Infolgedessen haben Sterbebegleitung, Sterben und Trauern eine Professionalisierung, Institutionalisierung und sogar Medikalisierung erfahren.

Diese vielfältigen Veränderungen haben zu einem neuen Verständnis des Lebensendes geführt, in der Angehörige und PatientInnen immer stärker untereinander und mit verschiedenen Fachleuten Entscheidungen aushandeln müssen, die mit einer schweren Erkrankung oder dem Verlust der Selbstständigkeit im hohen Alter einhergehen. Dies bedeutet auch, zeitweise formelle und informelle Hilfe kombinieren zu müssen, um die Betroffenen zu betreuen und in Abstimmung mit der gewählten Behandlung die höchstmögliche Lebensqualität zu gewährleisten. Dies bedingt eine stete Neuordnung der Rollen und Dynamiken innerhalb der Familie und ein Abstimmen von Privatleben, Betreuung und oft auch einer Berufstätigkeit.

Fachleute und Verbände haben das Ausmass dieser Veränderungen als Erste begriffen. Unter Berufung auf besonders komplexe Einzelfälle haben sie sich für neue, an Care-Praktiken orientierte Ansätze eingesetzt und die staatlichen Akteure sensibilisiert. Seit den 1980er Jahren finden sich Themen rund um das Lebensende in verstärktem Masse auf der politischen Agenda verschiedener Länder und werden Rechtsvorschriften zum Ausbau der Palliativpflege und bisweilen auch zum Thema Sterbehilfe umgesetzt. In der Schweiz wurde im Oktober 2009 auf Initiative des Eidgenössischen Departements des Innern und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren eine nationale Strategie zu dem Thema lanciert, nachdem eine fehlende Verankerung der Palliativpflege im Gesundheitsbereich festgestellt wurde. Hauptziel der Strategie war es, Fachleute wie Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren.

Parallel zu dieser Massnahme hat der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ein natio­nales Forschungsprogramm mit dem Titel «Lebensende» (NFP 67) lanciert, um sich ein genaueres Bild der diesbezüglichen Situation in der Schweiz zu verschaffen. Die entsprechenden Untersuchungen wurden zwischen 2012 und 2017 durchgeführt und dokumentieren interdisziplinär die wesentlichen Fragen und Probleme zum Thema Tod, mit denen sich die Einzelnen und die Gemeinwesen auseinandersetzen müssen. Sie liefern die aktuellen empirischen Grundlagen zur Meinungs- und Entscheidungsfindung.

Um den Anstieg von jährlich 60 000 Todesfällen zu Beginn des Jahrhunderts auf die für 2050 erwarteten 90 000 Todesfälle pro Jahr zu bewältigen, gilt es für die Sozialpolitik, drei Bereiche zu beachten. Zunächst muss im Bereich der Palliativpflege für ausreichend qualifiziertes Personal gesorgt und ein Spektrum an allgemeinen und spezialisierten Leistungen finanziert werden. Diese Leistungen müssen ins Gesundheitssystem integriert werden, ohne dass neue Ungleichheiten unter den Benützenden entstehen. Sie sind auf die Bedürfnisse der PatientInnen und ihrer Angehörigen abgestimmt, um die ungewisse Phase des Lebensendes so gut wie möglich abzudecken, was insofern kompliziert ist, da diese von den Betroffenen und ihren Angehörigen selten als spezifische Phase wahrgenommen wird: oft erkennen Angehörige erst nachträglich, wie viel Hilfe ihnen zuteil wurde. Patientenverfügungen stellen in diesem Zusammenhang ein gutes Mittel dar.

Zweitens stellt sich — angesichts des weit verbreiteten Gefühls, der Tod komme zu früh oder zu spät – mit grossem Nachdruck die Frage nach dem persönlichen Selbstbestimmungsrecht. In der Schweiz ist die Beihilfe zum Suizid (oder Freitodbegleitung) — auf die kein Recht besteht — ein insofern einzigartiges Modell, als ausser zur Verschreibung einer tödlich wirkenden Substanz keine Mitwirkung von Ärzten vorgeschrieben ist. Gemäss Artikel 115 des Strafgesetzbuches ist Beihilfe zum Suizid nicht strafbar, solange sie nicht aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt. Darüber hinaus muss der oder die Sterbewillige urteilsfähig sein und die Handlung selbst vornehmen. Beihilfe zum Suizid darf deshalb nicht mit Euthanasie oder mit medizinischer Sterbehilfe verwechselt werden. Vor allem Verbände geben der Beihilfe zum Suizid einen Rahmen, indem sie eigene Vorschriften festlegen. In diesem Zusammenhang ist eine der wesentlichen Fragen, ob Beihilfe zum Suizid in von öffentlichen Geldern finanzierten Einrichtungen praktiziert werden darf. In einigen Kantonen ist dies der Fall, und dies ermöglicht ihnen, die Bedingungen der Umsetzung vorzuschreiben.

Drittens müssen sich Angehörige in vielen Fällen zwischen Berufstätigkeit und der Begleitung eines schwerkranken Familienmitglieds entscheiden. Besonders gilt dies für die Eltern schwerkranker Kinder. Genau für solche Situationen – also jene pflegender Angehöriger – führten zahlreiche Länder um die Jahrtausendwende einen Anspruch auf «Pflegezeit» ein. Auf Bundesebene haben in der Schweiz Eltern einen Anspruch auf lediglich drei Tage Urlaub jährlich für die Betreuung ihres kranken Kindes. In den letzten zwanzig Jahren hat die Bundesversammlung im Hinblick auf die Einführung derartiger Massnahmen und deren Finanzierung allerdings zahlreiche Vorschläge zum Thema diskutiert. Im Februar 2017 kündigte der Bundesrat an, ein entsprechendes Gesetz verabschieden zu wollen. Gegebenenfalls wird es wichtig sein, hier einer Geschlechterdiskriminierung vorzubeugen, wie sie in anderen Ländern aufgetreten ist — es sind vor allem Frauen, die Pflegezeit nehmen — und den Anspruch auf Pflegezeit mit anderen Lösungen zu kombinieren, mit denen an den Schnittstellen zwischen öffentlicher Gesundheit, Wirtschaft und politischen Instanzen experimentiert werden kann. Nur so kann jene Flexibilität erreicht werden, die Erwerbstätige, welche die Pflege eines sich am Lebensende befindenden Angehörigen übernehmen, sich wünschen.

Literaturhinweise

Binder, J. & von Wartburg, L. (2009). Nationale Strategie Palliative Care 2010–2012. Bern: Bundesamt für Gesundheit & Schweizerische Konferenz der Kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren.

Leitungsgruppe des NFP 67 Lebensende (2017). Synthesebericht NFP67 Lebensende. Bern: ­Schweizerischer Nationalfonds.

Walter, T. (2017). What death means now: thinking critically about dying and grieving. Bristol: Policy Press.

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