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Medizinische Versorgung

Pierre Gobet

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Mit dem Begriff der medizinischen Versorgung werden sämtliche Leistungen des Gesundheitssystems mit Ausnahme von Schönheitsbehand­lungen bezeichnet. Unabhängig von ihren beruflichen Qualifikationen erbringen Pflegepersonen immer dann medizinische Versorgungsleistungen, wenn diese Leistungen dem Zweck der Prävention, der Behandlung, der Rehabilitation, der Linderung oder der Unterstützung dienen. Somit wird nur ein Teil der medizinischen Versorgung durch die Ärzteschaft erbracht. Überhaupt sind Gesundheitsfachpersonen nicht die einzigen, die medizinische Versorgungsleistungen erbringen. Auch pflegende Angehörige sowie die Patientin oder der Patient erbringen solche Leistungen.

Im Rahmen der medizinischen Versorgung unterscheidet man üblicherweise zwischen primären, sekundären und tertiären Leistungen. Die primäre Versorgung bezeichnet Präventivmassnahmen sowie die Behandlung von leichten und mittelschweren Erkrankungen. Sie werden in der Regel von Hausärztinnen und Hausärzten oder – in Ländern, in denen diese Funktion anerkannt ist – von Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten (advanced practice nurse, APN) erbracht. Die sekundäre Versorgung bildet das Herzstück des Gesundheitssystems. Sie umfasst sämtliche Ressourcen, welche den Patientinnen und Patienten durch die Spitäler zur Verfügung gestellt werden. Sie dienen der Behandlung akuter Erkrankungen sowie der Intervention in akuten Phasen von chronischen Krankheiten. Die tertiäre Versorgung umfasst schliesslich die Rehabilitationsbehandlungen, die Hilfe und Pflege zu Hause (Spitex) sowie die Leistungen in Pflegeheimen. Durch die Sicherstellung einer möglichst schnellen Spitalentlassung der Patientinnen und Patienten und einer angemessenen Nachbetreuung ermöglicht es die tertiäre Versorgung, die Aufenthaltsdauer im Spital und die Rehospitalisierungsrate zu verringern. Durch die geleistete Hilfe und Pflege zu Hause trägt dieser Sektor ausserdem dazu bei, die Institutionalisierung hinauszuschieben und zuweilen sogar zu verhindern.

Es kommt allerdings noch zu häufig vor, dass die Schnittstellen zwischen den Sektoren eine kontinuierliche und kohärente Betreuung behindern. Die Berufskultur fördert nicht die Zusammenarbeit zwischen den Angehörigen der verschiedenen Berufsgruppen. Zudem gibt es keine Akteurin und keinen Akteur, der oder die ausdrücklich damit betraut ist, den Gesamtüberblick über die Versorgungssituation zu behalten. Das Versorgungssystem ist des Weiteren fragmentiert. Dieses strukturelle Problem resultiert aus der starken beruflichen Spezialisierung, der Angebotsdiversifizierung und der zunehmenden Intensivierung des Wettbewerbs – alles Phänomene, welche die Entwicklung des Gesundheitssystems während des starken Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit geprägt haben.

Besonders deutlich wird das Problem beim langjährigen Umgang mit chronischen Krankheiten. 2015 hat das Schweizerische Gesundheitsobservatorium die Zahl der im Land lebenden Menschen mit chronischen Erkrankungen auf mehr als 2,2 Millionen geschätzt. Dies entspricht rund einem Drittel der Bevölkerung ab 15 Jahren. Mit zunehmendem Alter steigt das Morbiditätsrisiko. Unter den über Fünfzigjährigen leidet die Hälfte unter einer chronischen Krankheit. In der Gruppe der Menschen ab 80 Jahren haben 40 % gleichzeitig mit mindestens zwei chronischen Krankheiten zu kämpfen. 2011 beliefen sich die Kosten für die Behandlung nicht übertragbarer chronischer Krankheiten auf schätzungsweise 52 Milliarden Schweizer Franken, was rund 80 % der gesamten Gesundheitskosten entspricht. Deshalb stellt eine bessere Koordination und Integration der Versorgungsleistungen eine Priorität der Gesundheitspolitik dar, die der Bundesrat im Jahr 2013 unter dem Titel «Gesundheit 2020» vorgestellt hat.

Die bestehenden integrierten Versorgungsmodelle haben sich unter pragmatischen Bedingungen herausgebildet und sind historisch verankert. Daher ist es nicht einfach, eine systematische, umfassende Typologie dieser Modelle zu erarbeiten. Djalali und Rosemann schlagen 13 Kriterien zu ihrer Kategorisierung und zur Beurteilung ihres integrativen Potenzials vor. Unter den auf diese Weise umrissenen Modellen vermitteln das Modell Managed Care sowie das integrierte Versorgungsnetz (IVN) Gesamtkonzepte für das Gesundheitssystem.

Im Rahmen von Managed Care werden wirtschaftliche und finanzielle Anreize geschaffen, die auf ein wirtschaftlich rationelles Handeln der beteiligten Akteurinnen und Akteure hinwirken. Das ursprünglich in den USA entwickelte Modell beruht im Wesentlichen auf zwei Grundsätzen: der Regulierung des Wettbewerbs und einer prospektiven Vergütung der Leistungen. Es hängt ausserdem mit der Entwicklung von «Gesundheitskassen» (Health Maintenance Organisations, HMO) sowie der Herausbildung von Ärztenetzwerken zusammen. In ihrer vollendeten Form sind die HMO hochwirksame Integrationsinstrumente, deren Wirtschaftlichkeit und Kosten-Nutzen-Verhältnis allerdings hinterfragt wird. Sie agieren als Versicherer und als Leistungserbringer zugleich und haben den Anspruch, in den drei Sektoren der medizinischen Versorgung eine möglichst umfassende Dienstleistungspalette anzubieten. Das 1996 in Kraft getretene Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) hat die rechtlichen Grundlagen für eine nachhaltige Entwicklung auf Grundlage des Managed-Care-Modells geschaffen. Das Modell, das die Stellung der Kostenträger erheblich stärkt, ist in der Bevölkerung aber nicht auf die erhoffte Zustimmung gestossen: Die Vorlage scheiterte in einer Abstimmung 2012. Gesundheitsexpertinnen und -experten interpretieren diesen Widerstand gegen Managed Care jedoch nicht als generelle Ablehnung einer integrierten Versorgung, sondern als Aufforderung zur Prüfung anderer Integrationsmodelle.

Vor diesem Hintergrund stellt das integrierte Versorgungsnetz (IVN) eine mögliche Alternative zu Managed Care dar. Das IVN-Modell stammt ursprünglich aus Kanada. Es wurde um die Jahrtausendwende im Rahmen der Reform der gerontologischen und psychiatrischen Versorgung entwickelt. Die Koordination zwischen den Leistungserbringern und die Planung ihrer Interventionen erfolgt mittels verschiedener Instrumente – wie dem Fallmanagement, dem multiprofessionellen Assessment, der zentralen Anlaufstelle oder den Behandlungsprotokollen und -algorithmen, die im Rahmen dieses Modells allesamt als Integrationsfaktoren dienen. Das IVN ist eine eigenständige Einheit, die in der Regel als nicht gewinnorientierte Organisation strukturiert ist und der die (öffentlichen und privaten) Leistungserbringer angehören. Die Finanzierung des Netzwerks und seiner allfälligen Projekte erfolgt grundsätzlich durch Beiträge der Mitgliedsinstitutionen. Sie kann aber auch von der öffentlichen Hand übernommen werden.

Während sich das Modell Managed Care vom Markt inspirieren lässt, um die Gesundheitsversorgung zu gestalten und zu strukturieren, ist das IVN als Instrument eines als service public verstandenen Gesundheitswesens konzipiert. Daher werden Personen, die Leistungen beantragen, im Rahmen dieses Modells als Nutzende, als (Anspruchs-)Berechtigte – und weniger als KlientInnen oder KonsumentInnen – betrachtet. Im Zuge der Einführung des IVN-Modells muss jedoch eine zusätzliche Organisationsebene über der Ebene der bestehenden Leistungserbringer eingezogen werden. Der Gedanke liegt nahe, dass hierunter die Effizienz und Flexibilität dieses Instruments leiden. Ausserdem wird durch die Einführung von Interventionsrichtlinien und -algorithmen die bereits stark standardisierte Versorgung als grundsätzlich linearer, planbarer Prozesses ausgestaltet. Durch diesen Ansatz ist das IVN besonders anfällig für nicht vorhersehbare Ereignisse im Versorgungsprozess, die als Störfaktoren wahrgenommenen werden. Ausserdem betrachtet das IVN Menschen wie erwähnt nicht als KlientInnen, sondern bleibt einem bio-psycho-sozialen Patientenverständnis verhaftet. Erkrankung wird als eine negative Veränderung der körperlichen oder psychischen Funktionen verstanden, die dadurch Bedeutung erlangt, dass sie bestimmte Bedürfnisse erzeugt. Krankheit bekommt aber eine andere Dimension, wenn sich an ihren Folgen nichts ändern lässt. Dann hat die Patientin oder der Patient keine Heilungsperspektive, sondern muss mit der Erkrankung leben. In diesem Fall dürfen bei der Betreuung und Versorgung nicht die Defizite dieser Person im Vordergrund stehen, sondern ihre Fähigkeiten und Reserven, die sich für den langfristigen Umgang mit der Erkrankung mobilisieren lassen. Um eine angemessene Behandlung von chronischen Erkrankungen sicherzustellen, muss sich das IVN auf ein konstruktives Bild der Patientin oder des Patienten stützen, welches seine eigenen Ressourcen und Potenziale herausstreicht – wie auch die Ressourcen und Potenziale des persönlichen Umfelds und des institutionellen Netzwerks, das mit der Versorgung betraut ist.

Literaturhinweise

Djalali, S. & Rosemann, T. (2015). Neue Versorgungsmodelle für chronisch Kranke: Hintergründe und Schlüsselelemente. Neuenburg: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.

Fleury, M.-J. (2002). Émergence des réseaux intégrés de services comme modèle d’organisation et de transformation du système sociosanitaire. Santé mentale au Québec, 27(2), 7–15.

Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Hrsg.). Gesundheit in der Schweiz – Fokus chronische Erkrankungen: Nationaler Gesundheitsbericht 2015. Bern: Hogrefe.

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