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Menschenrechte

Alexandra Caplazi


Erstveröffentlicht: December 2020

Menschenrechte leiten sich aus der jedem Menschen innewohnenden, unveräusserlichen Würde her. Die Menschenwürde zielt auf die freie Selbstbestimmung und die gleiche Anerkennung des Einzelnen in seiner individuellen Einzig- und Andersartigkeit. Menschenrechte haben eine moralische, politische und rechtliche Dimension. Die erstere geht von der Moral gleicher Achtung aus und versteht die Menschenrechte als berechtigte moralische Ansprüche, die jedem Menschen im wechselseitigen Umgang aller Menschen miteinander zustehen. Als politische Konzeption verpflichten die Menschenrechte das politische Gemeinwesen, jeden Menschen durch die herrschende öffentliche Ordnung gleich zu berücksichtigen. Rechtlich schützen die Menschenrechte jene Aspekte des menschlichen Daseins, die sich gegenüber staatlicher und sozialer Macht als besonders verletzlich erwiesen haben. Ihre Anerkennung ist eine bewusste Norm- und Wertsetzung, die die Macht des Staates gegenüber dem Individuum begrenzt.

Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und die daraus gewonnene Erkenntnis der Notwendigkeit, die alleinige Macht eines Staates im Umgang mit dem Individuum zu begrenzen, führte 1945 zur Gründung der UNO. Die Charta der Vereinten Nationen verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten nachhaltig zu fördern. Die 1948 verabschiedete Allgemeine Menschenrechtserklärung konkretisiert diese Verpflichtung. Sie beschreibt den Schutz der Menschenrechte als ein gemeinsam zu erreichendes Ideal und hält fest, dass die Anerkennung der angeborenen Würde und gleichen Rechte aller Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet.

Die Allgemeine Menschenrechtserklärung anerkennt sowohl Freiheits- als auch Sozialrechte. Um ihre rechtliche Verbindlichkeit zu bewirken, verabschiedete die UNO 1966 den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Pakt I) sowie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Pakt II). Pakt I umfasst Sozialrechte wie das Recht auf Arbeit und gerechte Arbeitsbedingungen, Gewerkschaftsrechte, Sozi­ale Sicher­heit, das Recht auf einen angemes­senen Lebens­standard, Gesundheit, Bil­dung sowie Teil­nahme am kulturellen Leben und wis­sen­schaft­lichen Fortschritt. Der Vertrags­staat ist ver­pflich­tet, nach und nach unter Ausschöpfung all seiner Möglichkeiten und mit allen geeig­neten Mitteln die Sozialrechte zu verwirk­lichen. Sie garantieren dem Einzelnen subjektive Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen. Pakt II gewährleistet die klassischen Freiheitsrechte, welche rechtlich direkt wirksam sind. Der Staat hat die Tätigkeiten im Rahmen der individuellen Freiheitsphäre zu dulden, jede Beschränkung der Autonomie des Einzelnen zu unterlassen und den Einzelnen gegen Übergriffe Dritter zu schützen. Pakt I und II bilden mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung die International Bill of Rights. Darauf basierend verabschiedete die UNO Menschenrechtsverträge, die den umfassenden Schutz eines bestimmten Menschenrechts regeln oder besonders schutzbedürftige Personengruppen in ihrer Rechtstellung schützen. Mit der Ratifizierung eines UNO Übereinkommens verpflichtet sich der Vertragsstaat, die garantierten Rechte innerstaatlich zu gewährleisten, und unterstellt sich dem jeweiligen Überwachungs- und Durchsetzungsverfahren. Der Gehalt der UNO Menschenrechtsverträge, die die Schweiz ratifiziert hat, fliesst mittels völkerrechtskonformer Auslegung innerstaatlichen Rechts in die nationale Rechtsordnung.

Auf regionaler Ebene von Bedeutung sind die vom Europarat 1950 verabschiedete Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und die Europäische Sozialcharta von 1961 resp. ihre revidierte Fassung von 1996. Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert Freiheitsrechte und mit Ausnahme des Rechts auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand im gerichtlichen Verfahren keine Sozialrechte. Dennoch können gewisse Garantien soziale Wirkungen entfalten. Die Verfahrensrechte sind auch in einem sozialrechtlichen Verfahren zu beachten und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens kann einen sozialrechtlichen Anspruch bewirken. Die Europäische Sozialcharta umfasst 19 grundlegende Sozialrechte, von denen das Recht auf Arbeit, die Vereinigungs- und Koalitionsrechte, die Soziale Sicherheit, das Fürsorgerecht, der Schutz der Familie sowie der Schutz der Wanderarbeitnehmerschaft und ihrer Familien zu den Kernbestimmungen gehören. Mit der Ratifikation der Sozialcharta bekräftigen die Vertragsstaaten den Willen, mit allen zweckdienlichen Mitteln eine Politik zu verfolgen, damit die tatsächliche Ausübung der garantierten Rechte gewährleistet ist. Die revidierte Sozialcharta berücksichtigt die Entwicklung der europäischen Gesellschaft und garantiert weitere Sozialrechte, u. a. die Kernbestimmungen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen sowie zur Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Im Rahmen der Ratifikation können die Vertragsstaaten eine Auswahl der sie bindenden Garantien treffen. Sie sind dabei verpflichtet, eine gewisse Mindestanzahl an Kernbestimmungen anzuerkennen. Die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention sind in der Schweiz grundsätzlich direkt anwendbar. Die Europäische Sozialcharta von 1961 bzw. 1996 ist für die Schweiz nicht bindend, da sie sie nicht ratifiziert hat.

Die schweizerische Bundesverfassung beinhaltet einen Grundrechtskatalog, der neben einer Vielzahl von Freiheitsrechten wenige soziale Grundrechte, die Rechtsgleichheit und Verfahrensrechte garantiert. Die Freiheitsrechte stimmen weitgehend mit den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention überein. Im Unterschied zu den international verbürgten Menschenrechten, die allen Menschen ungeachtet ihrer Nationalität gewährleistet sind, enthält der Grundrechtskatalog die Niederlassungsfreiheit, den Schutz vor Ausweisung und die politischen Rechte, die lediglich von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern beansprucht werden können. Die einklagbaren sozialen Grundrechte sind das Recht auf Hilfe in Notlagen, der Anspruch auf Grundschulunterricht, der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und der Schutzanspruch von Kindern und Jugendlichen. Vom Grundrechtskatalog nicht erfasst sind die Sozialziele in Artikel 41 der Bundesverfassung, die sich an die Sozialrechte aus UNO Pakt I anlehnen. Als Zielnormen verstehen sie sich als Auftrag an die nationalen Behörden und begründen keine einklagbaren Rechte des Einzelnen auf staatliche Leistungen. Als formelles Verfassungsrecht sind sie verbindlich und müssen besonders vom Gesetzgeber mitberücksichtigt werden. Sie bieten die verfassungsrechtliche Grundlage für die Schweizer Sozialpolitik und Sozialstaatlichkeit als auch für die sozialrechtlichen Gehalte der Kantonsverfassungen. Zahlreiche Kantonsverfassungen enthalten ausführliche Grundrechtskataloge, die punktuell über denjenigen der Bundesverfassung hinausgehen.

Im internationalen Kontext werfen die Menschenrechtsidee und das ihr inhärente Prinzip der Menschenwürde die Frage nach der universellen Geltung der Menschenrechte auf. Ihre Geltung wird von den Staaten nicht bestritten. Uneinigkeit innerhalb der Staatengemeinschaft besteht in Bezug auf den konkreten Gehalt der Garantien, ihre Schranken und die Bedeutung der verschiedenen Kategorien von Menschenrechten. Aus relativistischer Sicht kann nicht ein einziges (westliches) Konzept massgebend sein, da der vorherrschende Wertepluralismus von den historischen Entwicklungen einer jeden Gesellschaft und von kulturspezifischen Massstäben und Werten bestimmt ist. Der Ansatzpunkt für die wichtige Konsensbildung in Bezug auf den Gehalt jedes einzelnen Menschenrechts liegt vielmehr in einem zwischen- und innerkulturellen Lernprozess: einerseits das Erkennen von gemeinsamen menschlichen Grundbedürfnissen und andererseits aus der Konfrontation mit anderen Kulturen und ihren Werten.

Literaturhinweise

Hertig Randall, M. & Chatton, G. T. (2014). Les droits sociaux fondamentaux dans l’ordre juridique suisse. Dans L. Heckendorn Urscheler (Éd.), Rapports suisses présentés au XIXe Congrès international de droit comparé. Zurich: Schulthess.

Kälin, W. & Künzli, J. (2019). Universeller Menschenrechtsschutz: Der Schutz des Individuums auf globaler und regionaler Ebene (4., vollst. überarb. und erw. Aufl.). Basel: Helbing Lichtenhahn.

Müller, J. P. & Schefer, M. (2008). Grundrechte in der Schweiz: Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte (4. Aufl.). Bern: Stämpfli.

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