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Migrantinnen und Migranten ohne Aufenthaltsstatus

Martina Caroni


Erstveröffentlicht: December 2020

Als Migrantinnen und Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus bzw. Sans-Papiers werden heute landläufig Asylsuchende bezeichnet, die ohne Reisedokumente in die Schweiz eingereist sind oder Personen, die wegen Papierlosigkeit nicht ausgeschafft werden können. Gemeint werden zuweilen aber auch illegal eingereiste Personen oder Personen, die einer Schwarz­arbeit nachgehen. All diese Assoziationen gehen indes am rechtlichen Begriff der Sans-Papiers vorbei. Aus rechtlicher Sicht sind Sans-Papiers Ausländer und Ausländerinnen, die sich ohne die für ihren Aufenthalt nötige ausländerrechtliche Bewilligung in der Schweiz aufhalten. Die Papierlosigkeit bezieht sich somit weder auf das Fehlen von Reise- oder Identitätspapieren noch das Fehlen einer Arbeitsbewilligung, sondern vielmehr auf die mangelnde ausländerrechtliche Bewilligung für den Aufenthalt in der Schweiz.

In die Papierlosigkeit führen verschiedene Wege: (1) Sie kann zunächst dadurch entstehen, dass Ausländerinnen und Ausländer ohne Visum einreisen und sich auch danach nie rechtmässig, d. h. mit der nötigen Bewilligung, in der Schweiz aufhalten. (2) Sans-Papier im rechtlichen Sinn wird weiter, wer zwar rechtmässig, d. h. mit dem nötigen Visum, eingereist ist, nach Ablauf des Aufenthaltsrechtes aber weiter in der Schweiz bleibt. (3) Papierlos sind ferner auch jene Ausländer und Ausländerinnen, die früher zwar eine ausländerrechtliche Bewilligung besassen, heute aber über kein Aufenthaltsrecht mehr verfügen. (4) Schliesslich gelten als Sans-Papiers auch Personen, deren Asylgesuch abgewiesen wurde, die aber weiterhin in der Schweiz leben, ohne vorläufig aufgenommen zu sein.

Da Sans-Papiers nirgends registriert sind, lässt sich ihre Zahl lediglich schätzen. Eine Schätzung aus dem Jahr 2015 geht von rund 76 000 Sans-Papiers aus. 86 % der erwachsenen Sans-Papiers sind erwerbstätig. Davon sind mehr als die Hälfte in Privathaushalten, 18 % auf dem Bau, 16 % im Gastgewerbe und 5 % in der Landwirtschaft tätig.

Bei der Debatte über Sans-Papiers prallen politische und wirtschaftliche Ideale, Werte und Überzeugungen aufeinander, die unterschiedliche bzw. gar gegensätzliche Ziele verfolgen. Aus politischer Sicht steht die mit dem dualen Zulassungssystem verbundene Abschottung des Arbeitsmarktes gegenüber Drittstaaten im Vordergrund: Während Personen aus dem EU-/EFTA-Raum praktisch uneingeschränkt in der Schweiz arbeiten dürfen, können aus allen anderen Staaten grundsätzlich nur Spezialistinnen und Spezialisten, Führungskräfte und andere qualifizierte Arbeitskräfte rekrutiert werden. Damit verkennt die Politik jedoch, dass Migrationsbewegungen heute – zumindest sofern sie nicht durch Kriege oder Naturkatastrophen ausgelöst werden – nicht vom Staat, sondern vielmehr vom Markt und den Bedürfnissen der Wirtschaft gesteuert werden. Die verschiedenen Branchen rekrutieren ihre Arbeitskräfte dort, wo sie verfügbar sind, nicht dort, wo sie rekrutiert werden dürfen. Sans-Papiers befriedigen den Arbeitskräfte­bedarf gewisser Branchen, der nicht auf legalem Weg befriedigt werden kann.

Obwohl Sans-Papiers über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen, sind sie nicht rechtlos. Denn die in internationalen Konventionen und der Schweizerischen Bundesverfassung verankerten Menschen- und Grundrechte stehen allen sich in der Schweiz aufhaltenden Personen zu, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und dem Vorhandensein einer allenfalls nötigen Aufenthaltsbewilligung. Sans-Papiers haben somit sehr wohl Rechte und können gestützt darauf bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen Ansprüche geltend machen. Die Verwirklichung dieser Ansprüche ist jedoch wegen der Angst, von den Behörden entdeckt zu werden, schwierig. Wegen dieses Risikos vermeiden es Sans-Papiers so weit als möglich, an Ämter und Institutionen zu gelangen, um Ansprüche geltend zu machen. Deutlich wird dies etwa in Bezug auf die Sozialversicherungen. So erfasst etwa die Krankenversicherungspflicht alle in der Schweiz wohnhaften Personen, inklusive Sans-Papiers. Der Abschluss einer Krankenpflegeversicherung erscheint aber vielen Sans-Papiers als zu riskant und oft sind die Krankenkassen auch gar nicht bereit, Sans-Papiers aufzunehmen. Daher sah sich das Bundesamt für Sozialversicherungen im Jahr 2002 genötigt, in einem Kreisschreiben an die Versicherer festzuhalten, Sans-Papiers mit Wohnsitz in der Schweiz wie alle anderen versicherungspflichtigen Personen aufzunehmen. Darüber hinaus verwies das Bundesamt auf die Pflicht der Versicherer zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten und auf die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen einer Verletzung der Verschwiegenheitspflicht. Trotzdem ist es für Sans-Papiers in einigen Regionen der Schweiz weiterhin schwierig, von einer Krankenkasse aufgenommen zu werden. Hinzu kommt, dass die Krankenkassenprämien für die meisten Sans-Papiers, die in der Regel für tiefe Löhne arbeiten, zu hoch sind. Zwar hätten Papierlose unter denselben Voraussetzungen wie legal in der Schweiz lebende Personen Anspruch auf Prämienverbilligung. Doch auch das Einreichen des Gesuches um Prämienverbilligung ist riskant. Darum sehen einige Kantone besondere Verfahren zur Einreichung und Bearbeitung der Prämienverbilligungsgesuche vor.

Da viele Sans-Papiers somit weder kranken- noch unfallversichert sind und nur über sehr beschränkte finanzielle Mittel verfügen, ist ihr Zugang zur Gesundheitsversorgung erschwert. Deshalb gibt es beispielsweise in Genf seit 1996 die Unité de soins communautaires, die Menschen mit beschränkten finanziellen Möglichkeiten und vor allem auch Personen ohne Krankenversicherung ärztlich versorgt. Hier können auch Papierlose Hilfe suchen, ohne grosse administrative Hürden fürchten zu müssen. Auch in anderen Kantonen bestehen mittlerweile Netzwerke, an die sich Sans-Papiers bei gesundheitlichen Problemen wenden können.

Im Einklang mit der behördlichen Haltung, dass Illegalität nicht gefördert bzw. belohnt werden dürfe, steht bei der Frage nach Regularisierung oder Ausschaffung entdeckter Sans-Papiers die Ausschaffung im Vordergrund. Legalisierungen sind selten und erfolgen nur ausnahmsweise. Kollektive Regularisierungen, wie sie bis zu Beginn der Nullerjahre im europäischen Ausland existierten und bis heute z. B. in den Vereinigten Staaten vorkommen, werden in der Schweiz kategorisch ­abgelehnt.

Die seltenen Legalisierungen des Aufent­haltes von Sans-Papiers sind einzig über die sogenannte Härtefallklausel im Ausländer- und Integrationsgesetz möglich. Diese bestimmt, dass die kantonalen Migrationsbehörden bei schwerwiegenden persönlichen Härtefällen Sans-Papiers eine Aufenthaltsbewilligung ertei­len können, sofern das Staatssekretariat für Migration (SEM) hierzu seine Zustimmung erteilt. Entscheidende Rolle bei der Legalisierung kommt somit den kantonalen Behörden zu, müssen diese doch grundsätzlich gewillt sein, Sans-Papiers eine Bewilligung zu erteilen. Die entsprechende Bereitschaft ist freilich im kantonalen Vergleich äusserst unterschiedlich. So haben etwa im Jahr 2015 lediglich neun Kantone insgesamt 318 Härtefallgesuche an das Staatssekretariat weitergeleitet. Dabei stammten allein 220 Gesuche aus dem Kanton Genf. Letzterer führte von Februar 2017 bis Ende 2018 im Rahmen der «Operation Papyrus» eigens eine Aktion zur Legalisierung von mehreren hunderten Sans-Papiers durch.

Seit wenigen Jahren kann zudem unter gewissen Voraussetzungen an Sans-Papiers-Jugendliche, die mindestens fünf Jahre ununterbrochen die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben, eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, damit diese eine Berufslehre absolvieren können. Eltern und Geschwister dieser legalisierten Jugendlichen können ebenfalls eine Bewilligung erhalten, sofern sie die bereits erwähnten Bedingungen des schwerwiegenden persönlichen Härtefalles erfüllen. Wegen der unsicheren Chancen eines Gesuches und dem damit verbundenen Risiko der Ausschaffung erstaunt es nicht, dass auch die Zahl der Härtefallgesuche von Sans-Papiers-Jugendlichen tief sind.

Literaturhinweise

Morlok, M., Meier, H., Oswald, A., Efionayi-Mäder, D., Ruedin, D., Bader, D. & Wanner, P. (2015). Sans-Papiers in der Schweiz 2015: Schlussbericht zuhanden des Staatssekretariats für Migration (SEM). Basel: B,S,S. Volkswirtschaftliche Beratung AG.

Niederöst, P. (2009). Sans-Papiers in der Schweiz. In P. Uebersax, B. Rudin, T. Hugi Yar & T. Geiser (Hrsg.), Ausländerrecht: Eine umfassende Darstellung der Rechtsstellung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz (S. 373–415). Basel: Helbing Lichtenhahn.

Petry, R. (2013). La situation juridique des migrants sans statut légal: entre droit international des droits de l’homme et droit suisse des migrations. Genève: Schulthess.

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