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Migration und Bildung

Rosita Fibbi

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Migration führt, ungeachtet ob sie aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen erfolgt, früher oder später dazu, dass neue Bevölkerungsgruppen in die Wirtschaftsstruktur des Aufnahmelandes integriert werden. Bildung und Erziehung sind dabei von entscheidender Bedeutung. Das Verhältnis von Migration und Bildung wird durch das Bildungs- und Berufsprofil der eingewanderten Menschen geprägt, und dieses Profil hängt seinerseits davon ab, nach welchen Gesichtspunkten die Einwanderung gesteuert wird. In der Schweiz wird Einwanderungspolitik als Arbeitsmarktpolitik verstanden. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis vor rund zwanzig Jahren war vorwiegend die Einwanderung von Menschen mit niedrigem Bildungsniveau erwünscht, welche die in der Schweiz am wenigsten begehrten und qualifizierten Arbeitsplätze besetzen sollten. Seit Ende der 1990er Jahre begünstigen die Behörden jedoch im Zug der neuen Globalisierungswelle die Einwanderung von hoch qualifizierten Arbeitskräften. Diese beiden unterschiedlichen Prioritäten der Einwanderungspolitik erklären, warum Migrantinnen und Migranten der ersten Generation im Vergleich zur Schweizer Bevölkerung sowohl bei den Personen ohne nachobligatorische Ausbildung (28 vs. 14,8 %) als auch bei den Personen mit tertiärem Bildungsabschluss (36 vs. 32,2 %, Daten von 2015) übervertreten sind.

Um den Zusammenhang zwischen Migration und Bildung zu verstehen, ist es auch wichtig festzustellen, welche schulischen Erfolge die von eingewanderten Eltern abstammenden Menschen im neuen Aufenthaltsland erzielen: Den Schlüssel hierfür stellen die Schulpolitik und die vom Schulsystem gebotenen Möglichkeiten dar. Das Schicksal dieser jungen Menschen – ob sie sich mit Arbeitsplätzen ganz unten auf der sozialen Leiter begnügen müssen oder aus solchen Schranken ausbrechen können – wirkt sich sowohl auf die Wirtschaftsleistung als auch auf den sozialen Zusammenhalt des Landes aus. Für die Integration ist ein gerechter Zugang zu Bildungs- und Berufsqualifikationen unerlässlich. Doch welche Bildungserfolge können Migrantenkinder in der Schweiz verzeichnen?

Einzelne Indikatoren geben einen Einblick in die Bildungslücke zwischen in der Schweiz geborenen Kindern von Zugewanderten (Secondas und Secondos) und jungen Menschen ohne Migrationshintergrund. Fehlt der nach­obligatorische Abschluss, so verringern sich die Chancen für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, während die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Probleme (Arbeitslosigkeit, Armutsrisiko) zunimmt. 2015 war dies bei jungen Secondas und Secondos im Alter von 25 bis 34 Jahren doppelt so oft der Fall wie bei Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund. Dieses Verhältnis zählt zu den niedrigsten Werten in den OECD-Ländern.

Junge Menschen, die von eingewanderten Eltern abstammen, absolvieren zudem häufiger die Sekundarstufe I mit Grundanforderungen. Während ein Fünftel der jungen Schweizerinnen und Schweizer die Sekundarstufe I mit Grundanforderungen besucht, sind es zwei von fünf jungen Menschen aus Italien, Spanien, Portugal oder der Türkei und mehr als drei von fünf aus dem ehemaligen Jugoslawien und Albanien. Ein Abschluss auf Tertiärstufe ist der Höhepunkt einer erfolgreichen Schullaufbahn und bietet gute Chancen für die berufliche und soziale Integration. 2015 verfügten etwas mehr als ein Drittel der Migrantenkinder (37 %) im Alter von 25 bis 34 Jahren über einen derartigen Abschluss, verglichen mit rund der Hälfte der Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund.

Diese Daten drücken Durchschnittswerte aus, welche gleichzeitig die hoch und die wenig qualifizierte Migration umfassen. Die Bildungsverläufe junger Menschen werden jedoch stark von der sozialen Herkunft ihrer Eltern beeinflusst. Unter den OECD-Ländern gehört das schweizerische Schulsystem zu den ungleichsten, denn es besteht eine starke Korrelation zwischen Schulleistungen und sozialer Herkunft, was auf eine hohe soziale Reproduktion hinweist. Die Einschulung und die schulischen Leistungen der Kinder von wenig qualifizierten Migranteneltern gehören daher zu den wichtigsten Herausforderungen des schweizerischen Schulwesens. Unter den Kindern aus bescheidenen Verhältnissen ist der Anteil, der sehr gute schulische Leistungen vorweisen kann, bei Kindern der zweiten Generation halb so hoch wie bei Schweizer Kindern, und bei Kindern, die im Ausland geboren sind, liegt dieser Anteil noch einmal um die Hälfte tiefer.

Der Schritt von der obligatorischen Schule zur Sekundarstufe II ist entscheidend für die soziale Integration junger Menschen, erweist sich aber für viele Migrantenkinder als ein schwieriger Übergang. Jede vierte Ausländerin, jeder vierte Ausländer muss auf eine Übergangslösung zurückgreifen (10. Jahr Sekundarstufe I, Vorkurse oder Vorlehre), während dies bei Schweizer Jugendlichen nur bei einem Zehntel der Fall ist. Die Bewältigung dieses Übergangs hängt stärker von der sozialen und migratorischen Herkunft als von den schulischen Leistungen ab, wie Analysen der ersten Längsschnittdaten zur Sekundarstufe II deutlich machen.

Bei Betrachtung des Bildungsverlaufs von der Primarschule bis zum beruflichen Einstieg ist festzustellen, dass Jugendliche der zweiten Generation, deren Eltern aus der Türkei oder dem Balkan stammen, weniger häufig als diejenigen schweizerischer Herkunft (16 vs. 28 %) die am besten qualifizierten Ausbildungswege einschlagen und leitende Positionen in der Arbeitswelt einnehmen. Dies bestätigt das vorherrschende Bild der schlechteren Bildungsleistungen von Migrantenkindern, was insbesondere auf ihren unvorteilhaften sozialen Hintergrund zurückzuführen ist. Die andere Seite der Medaille ist weniger bekannt: Der Weg der Ausbildung und beruflichen Eingliederung verläuft bei diesen jungen Menschen häufiger als bei Schweizer Jugendlichen (60 vs. 40 %) aufsteigend, wenn auch etwas holprig. Sie absolvieren die Sekundarstufe I mit Grundanforderungen, gegebenenfalls das zehnte Schuljahr und eine Lehre, erreichen aber, insbesondere dank Nutzung von Weiterbildungsangeboten, eine berufliche Stellung im mittleren Kader.

Ausserdem scheinen Secondas und Secon­dos nicht benachteiligt zu sein, wenn es darum geht, nach Abschluss der gymnasialen Sekundarstufe II in die Tertiärstufe zu wechseln. Im Gegenteil, wenn der sozioökonomische Hintergrund und die schulischen Leistungen kontrolliert werden, beginnen junge Männer der zweiten Generation mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien, Albanien/Kosovo, der Türkei oder Portugal mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Hochschulbildung.

Aus diesen verschiedenen Analysen geht hervor, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, deren Familien über ein niedriges Bildungsniveau verfügen, die grössten Hindernisse im ersten Teil ihres Bildungswegs zu überwinden haben.

Um die Unterschiede im Bildungserfolg von Migrantenkindern zu erklären, werden häufig die für die Migration charakteristischen Faktoren herangezogen: sozialer Status und Sprachkenntnisse. Erfolge und Misserfolge der verschiedenen Immigrantengruppen werden zudem gern mit der Herkunftskultur begründet. Diese differenzialistischen Erklärungen haben den Nachteil, dass sie von im Zeitablauf starren Kulturen und einer homogenen Sicht der Herkunftsgruppen ausgehen. Dabei übersehen sie, dass die Tatsache der Migration sowie die mit der Migration und dem Generationenwechsel einhergehenden Anpassungsprozesse den kulturellen Horizont der migrierenden Personen und deren Familien stark verändern.

Neuere Forschungsarbeiten haben zur Erklärung der je nach Einwanderungsland unterschiedlichen Bildungserfolge von Migrantenkindern die Merkmale der Schulsysteme der Immigrationsländer statt die Migrantinnen und Migranten in den Mittelpunkt gestellt. Indem die TIES-Studie (The Integration of the European Second Generation) Kinder von Eltern, die aus der Türkei eingewandert sind, miteinander vergleicht, zeigt sie, wie sich die unterschiedlichen Schulsysteme in den Einwanderungsländern auf die Ungleichheit in den Bildungschancen und die intergenerationelle Mobilität von Nachkommen eingewanderter Eltern auswirken. Schulsysteme mit später Einschulung und frühzeitiger Selektion (wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz) bieten Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund und geringem Bildungsstand weniger Zeit, die für den Bildungserfolg notwendigen Fähigkeiten zu erlernen, als Systeme mit frühzeitiger Einschulung und später Selektion (wie in Frankreich und Schweden).

Literaturhinweise

Gomensoro, A. & Bolzman, C. (2016). Les trajectoires éducatives de la seconde génération: quel déterminisme des filières du secondaire I et comment certains jeunes le surmontent. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 42(2), 289–308.

Sacchi, S., Hupka-Brunner, S., Stalder, B. E. & Gangl, M. (2011). Die Bedeutung von sozialer Herkunft und Migrationshintergrund für den Übertritt in anerkannte nachobligatorische Ausbildungen in der Schweiz. In M.M. Bergman, S. Hupka-Brunner, A. Keller, T. Meyer & B.E. Stalder (Hrsg.), Transitionen im Jugendalter: Ergebnisse der Schweizer Längsschnittstudie TREE (S. 120–156). Zürich: Seismo.

Schnell, P. & Fibbi, R. (2016). Getting ahead: educational and occupational trajectories of the ‘new’ second-generation in Switzerland. Journal of International Migration and Integration, 17(4), 1085–1107.

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