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Nächstenliebe

Odilo Noti


Erstveröffentlicht: December 2020

Die christliche Tugend der Nächstenliebe hat ihren Ursprungsort im so genannten Doppelgebot, wie es etwa im Lukasevangelium (10, 25–37) formuliert ist: «Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken und: Deinen Nächsten wie dich selbst.» Diese Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe, wonach sich in der Zuwendung zum Nächsten/zur Nächsten die Liebe zu Gott erweist, wird oft als Proprium des Christentums verstanden. Tatsächlich gilt sie aber auch in der jüdischen Tradition als Kern der Thora, des mosaischen Gesetzes.

Dem Gebot der Nächstenliebe liegt eine Logik der Entgrenzung zugrunde: Es ist verbindlich gegenüber allen Menschen, insbesondere gegenüber den Fremden, den Feinden (durch Verzicht auf Gegengewalt) und den als Sündern Deklassierten und Diskriminierten (Zöllner, Aussätzige usw.). Das biblische Verständnis der Nächstenliebe (griech. Agape, lat. Caritas) ist zu unterscheiden von der Philanthropie. Diese ist die in der Antike von den Königen und Herrschenden geforderte Haltung des Grossmuts und des Gewaltverzichts. Philanthropie ist ein «Oberschichtsideal», Agape ein «Unterschichtsethos». Letzteres zielt als Haltung und Praxis sowohl über die Grenzen der eigenen Gesellschaft als auch über die innergesellschaftliche Ausgrenzung hinaus. Gleichzeitig setzte die Praxis der Agape innerkirchlich immer wieder ein institutionskritisches Potenzial frei. Im Namen der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe begaben sich ihre Protagonisten in Opposition zu kirchlichen Exklusionsstrategien im Zeichen von Dogmatismus und Intoleranz. Gegenüber dem kirchenamtlichen Primat der Orthodoxie («richtiger Glaube») bestanden sie auf dem Primat der Orthopraxis («richtiges Handeln»).

Die Verbindung der religiösen Praxis mit der Hilfe für Arme und Schwache kennzeichnet das Sozialethos aller Weltreligionen. In der Geschichte des Christentums wird dieses Ethos nicht so sehr unter dem Namen der Nächstenliebe als vielmehr unter dem Stichwort der Barmherzigkeit und der Mildtätigkeit tradiert. Prägend sind die «sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit». Ihre Reihenfolge orientiert sich an der Gerichtsrede im Matthäusevangelium (25,31–46): die Hungrigen speisen, den Durstigen zu trinken geben, die Fremden beherbergen, die Nackten kleiden, die Kranken pflegen, die Gefangenen im Kerker besuchen und die Toten begraben. Auch wenn die Werke der Barmherzigkeit weitreichender sind als die Armenhilfe, gehört die Armenspeisung seit jeher zu den sozialen Hauptaufgaben von Klöstern, kirchlichen Stiftungen, Ordensgemeinschaften und Bruderschaften. Bis weit ins 19. Jh. hinein bleiben die christlichen Kirchen in Europa massgebliche Mitgestalterinnen und Trägerinnen der sozialen Hilfe. Dies ändert sich erst, als die mit der Industrialisierung einhergehenden Prozesse der Pauperisierung und Proletarisierung neue gesellschaftliche Akteure und Problemlösungen erfordern. Die soziale Hilfe der christlichen Kirchen wird durch die Bildung von sozialstaatlichen Leistungs- und Versicherungssystemen abgelöst. Statt der ständisch-kirchlichen Armenfürsorge ist nun die staatliche Daseinsvorsorge erforderlich. Die Kirchen und ihre Einrichtungen nehmen fortan eine nachgeordnete, subsidiäre Funktion wahr, zugunsten jener Menschen, die durch die Maschen der sozialen Netze fallen. Entsprechend ist der sozialpolitische Diskurs nicht mehr normativ-christlich geprägt, sondern lässt sich von natur- und menschenrechtlichen Argumentationen leiten.

Religionssoziologen wie Franz-Xaver Kaufmann oder Karl Gabriel anerkennen, dass die Kirchen bzw. die christlich-sozialen Bewegungen – bei aller Widersprüchlichkeit – für die Herausbildung moderner, sozialstaatlich organisierter Solidarität entscheidend waren. Das Christentum hat sehr früh ein integratives Ethos entwickelt, das in seinen Auswirkungen gegen gesellschaftliche Ausschliessung soziale Inklusion fordert, also die Partizipation aller an den grundlegenden gesellschaftlichen Bereichen wie Familie, Bildung, Arbeit. Dadurch wurde ein Ethos freigesetzt, das – beispielsweise in der Gestalt der Nächstenliebe – mit seinem universalistischen Geltungsanspruch alle Gruppen- und Standesgrenzen sprengt. Dies gilt vor allem im Blick auf die sozialstaatliche Solidarität mit ihren Mitwirkungs- und Teilhaberechten für alle.

Die christlichen Kirchen reagierten ihrerseits auf die negativen Folgen der Industrialisierung mit der Bildung von sozialen Organisationen und Fachverbänden wie der «Inneren Mission», der Vinzenzkonferenz oder der Caritas. In einer langfristigen Perspektive haben ihre «Strukturen der Hilfe» jedoch an gesellschaftlichem Gewicht verloren. An Bedeutung gewonnen hat hingegen die von ihnen repräsentierte «Kultur des Helfens», in der sich die zivilgesellschaftliche Unterstützung durch Spendende, Mitglieder und Freiwillige Ausdruck verschafft. Dieser Sachverhalt dürfte vermutlich nicht nur für die Kirchen, sondern für alle gemeinnützigen privaten Organisationen zutreffen. Wie Wolfgang Huber, früherer Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, anmerkt, schärft die in der Kultur des Helfens konkretisierte Haltung der Barmherzigkeit den Blick für die gesellschaftliche Lage insgesamt: «Sie lenkt die Aufmerksamkeit dorthin, wo es an Gerechtigkeit fehlt.» Die Kirchen und ihre Einrichtungen sind deshalb nicht bloss als kompensatorische Barmherzigkeitseinrichtungen angesichts sozialstaatlichen Rückbaus zu sehen. Ihre Sensibilisierungsfunktion verhindert gesellschaftliche Verdrängungs- und Ausschliessungspraktiken. Im besten Fall bringen sie sich sogar themensetzend in die gesellschaftspolitische Arena ein.

Zwar ist das Religions- und Kirchenwesen in der Schweiz kantonal geregelt. Dennoch dominiert insgesamt jenes Modell im Verhältnis von Kirche und Staat, das den kirchlichen Körperschaften die öffentlich-rechtliche Anerkennung auf kommunaler und kantonaler Ebene verleiht. Der Staat anerkennt damit die Leistungen, welche die Kirchen in den Bereichen Bildung, Kultur und Soziales erbringen. Mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung einher geht die Verleihung von hoheitlichen Rechten wie das Steuerbezugsrecht und der erleichterte Zugang zu öffentlichen Einrichtungen (Schulen, Spitäler, Gefängnisse). Gegen den öffentlich-rechten Status der christlichen Kirchen wird auch Kritik laut. So gibt es (auch christlich-kirchliche) Stimmen, welche die Ausweitung der staatlichen Anerkennung auf die nichtchristlichen Religionsgemeinschaften fordern. Andere Stimmen wiederum postulieren die vollständige Trennung von Kirche und Staat. Den Kirchen würde dann nur noch der Status von privaten Vereinen zukommen. Auch wenn der Legitimationsaufwand der Kirchen zur Aufrechterhaltung des Status quo wächst, dürfte sich vorderhand am tradierten Verhältnis von Staat und Kirche in der Schweiz wenig ändern.

Ein ähnliches Fazit lässt sich in Bezug auf kirchennahe oder religiös motivierte soziale Institutionen ziehen. In der Schweiz geht die öffentliche Hand mit der Erteilung von Leistungsaufträgen Partnerschaften auch mit solchen Organisationen ein. Diesen bringt die Partnerschaft mit der öffentlichen Hand zusätzlich gesellschaftliche Anerkennung und Verankerung. Gleichzeitig eröffnet sie ihnen die Möglichkeit oder gegebenenfalls die Notwendigkeit, ihre Ausrichtung auf «Menschen in Not» weiterzuentwickeln und ihr Selbstverständnis als gemeinnützige Organisationen zu schärfen.

Als Leitvokabel für die Nächstenliebe steht heute in den christlichen Kirchen und ihren sozialen Organisationen eher der Begriff der Solidarität im Vordergrund. Die Praxis der Solidarität ist gewissermassen eine politisch-gesellschaftliche Interpretation des Gebots der Nächstenliebe. Zu dieser Entwicklung beigetragen hat gewiss die säkulare Gesellschaftskritik in der Tradition des Marxismus. Sie hat die Nächstenliebe als unpolitisches, weltabgehobenes Prinzip kritisiert, dass letzten Endes die Versöhnung mit einem ungerechten Status quo zur Folge hat. Insbesondere in der katholischen Kirche ist aber auch der Einfluss der lateinamerikanischen «Theologie der Befreiung» zu beobachten. Sie versteht das Gebot der Nächstenliebe als Imperativ, für Gerechtigkeit einzutreten. Die von ihr geforderte «Option für die Armen» ist eine historisch-gesellschaftliche Aktualisierung des Gebots der Nächstenliebe. Vor diesem Hintergrund nehmen die Kirchen und ihre sozialen Organisationen zum einen verstärkt ein gesellschaftspolitisches Mandat für die Unterprivilegierten und Randständigen wahr. Zum anderen situieren sie ihr Handeln im Horizont weltweiter, globaler Verantwortung. Nicht selten gelangen sie deswegen unter den Druck neoliberaler und rechtspolitischer Akteure.

Literaturhinweise

Collinet, M. (Hrsg.). (2014). Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie: Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert. Berlin: LIT.

Kaufmann, F.-X. (1989). Religion und Modernität: Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Tübingen: Mohr.

Pankoke, E. (1994). Diakonie/Caritas Wohlfahrtsverbände. In S.R. Dunde (Hrsg.), Wörterbuch der Religionssoziologie (S. 51–64). Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus.

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