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Notunterkunft

Jean-Pierre Tabin

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Kurzfristige Lösungen zur Beherbergung von Obdachlosen wurden in europäischen Städten seit dem Mittelalter eingerichtet (bekannt unter dem französischen Namen passade). Heute werden als Notunterkünfte all jene Einrichtungen bezeichnet, die von staatlichen oder privaten Institutionen geführt werden, um Obdachlose zumindest kurzfristig unterzubringen. Drei Arten von Unterkünften lassen sich aufgrund ihrer Zielgruppe unterscheiden: Behausungen für dauerhaft oder vorübergehend Obdachlose, für Frauen, die Zuflucht vor häuslicher Gewalt suchen, und für Asylsuchende.

Gemäss Angaben des Bundesrats (Antwort auf die parlamentarische Anfrage 14.3770) gab es Ende 2013 insgesamt 25 Notschlafstellen in 16 Städten oder Agglomerationen. Eine unbekannte Anzahl von Übergangsunterkünften und Hotelzimmern wird zudem von den kantonalen, regionalen und kommunalen Sozialdiensten benutzt, um die Probleme von Personen zu lösen, die beispielsweise wegen Trennung oder Verstössen gegen die Mietbestimmungen ihre Wohnung verlassen mussten. 18 Frauenhäuser bieten den Opfern häuslicher Gewalt Zuflucht. Verschiedene Arten von meist prekären, kollektiv genutzten Wohnungen werden Personen angeboten, deren Asylverfahren im Gange ist oder die davon ausgeschlossen wurden. Die Anzahl dieser Unterkünfte variiert je nachdem, wie viele Geflüchtete in der Schweiz ankommen.

Sieben Prozent der Bevölkerung lebten 2014 laut dem Bundesamt für Statistik in einer überbelegten Wohnung, 17 % in einer Wohnung, die über kein WC oder über keine Dusche oder Badewanne verfügte oder die zu dunkel oder zu feucht war. Darüber, wie viele Menschen keine Wohnung haben, gibt es keine statistischen Daten. Das Thema Wohnen in Armut wurde bisher kaum durch die Sozialpolitik aufgearbeitet. Eine Ausnahme bildet eine Studie, die im Rahmen des «Nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von Armut» im Jahr 2015 durchgeführt wurde. Diese Studie zeigte auf, dass die Wohnkosten in vier von fünf von Armut betroffenen Haushalten übermässig hoch sind. Die in Artikel 41 Buchstabe e der Bundesverfassung von 1999 formulierten Sozialziele im Bereich Wohnen werden also nicht erreicht («Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass […] Wohnungssuchende für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können»).

Im Jahr 2016 beherbergten die Notunterkünfte sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen – vorübergehend Obdachlose, BettlerInnen, MusikerInnen, MigrantenInnen usw. –, wobei der gemeinsame Nenner aller Einrichtungen der Mangel an Plätzen war. Die kommunalen Behörden rechtfertigen diese Knappheit und sogar das völlige Fehlen von Notschlafstellen damit, einen Anziehungseffekt vermeiden zu wollen. Häufig stützt sich die Politik dabei auf das Thermometer, das heisst, in den Wintermonaten stehen mehr Plätze zur Verfügung als in der warmen Jahreszeit. Das Ergebnis ist eine systematische Politik der Verknappung. Da selbst in den Luftschutzkellern nicht genügend Plätze zur Verfügung stehen, sind viele Menschen dazu gezwungen, die Nacht im Freien zu verbringen, wie es der Dokumentarfilm L’Abri (Das Obdach) von Fernand Melgar aus dem Jahr 2014 illustriert. Im Gegensatz zur Praxis in Nordeuropa oder Amerika wird in der Schweiz für diese Bevölkerungsgruppen kaum das Prinzip Housing First ((als Erstes eine Wohnung) angewendet. Stattdessen hält man sich überwiegend an das Stufenmodell Step to Step, das auf Übergangsunterkünften beruht und das von der Vorstellung ausgeht, dass ein Individuum sich zunächst aus der Desozialisierung hocharbeiten muss bevor es in einer bleibenden Unterkunft untergebracht werden kann.

Auch die Politik betreffend Notunterkünfte für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, ist durch den Mangel an verfügbaren Plätzen geprägt, was deutlich illustriert, wie schwer es immer noch fällt, die Auswirkungen männlicher Dominanz gesellschaftlich anzuerkennen. Nach Angaben des Bundesamts für Statistik wurden im Jahr 2013 insgesamt 9 381 Menschen Opfer häuslicher Gewalt. Drei Viertel davon waren Frauen, was auch dem Anteil weiblicher Mordopfer zwischen 2009 und 2013 entspricht (N = 123). Obschon viele Frauen in der Schweiz einer sehr realen Gefahr ausgesetzt sind, bleibt es für sie sehr schwierig, im Fall akuter Bedrohung eine Notunterkunft zu finden. Die meisten Frauenhäuser sind in der Dachorganisation der Frauenhäuser der Schweiz und Liechtenstein (DAO) zusammengeschlossen, die eine viel aktivere Politik in diesem Bereich fordert.

Personen, die in der Schweiz Asyl suchen und nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen, erhalten eine Sozialhilfe, die von den Kantonen organisiert wird. Mehrere Kantone benutzen für die Unterbringung Luftschutzkeller, das heisst dieselben unterirdischen, fensterlosen Räume, die auch Obdachlosen angeboten werden. Die Waadt ist der Kanton, der am häufigsten auf diese «Lösung» zurückgreift. 2014 brachte die Waadtländer Empfangsstelle für Migrantinnen und Migranten (EVAM) 500 Menschen in zehn Luftschutzkellern unter. Luftschutzkeller werden seit 2004 in einigen Kantonen auch für Personen benutzt, die auf Nothilfe gesetzt wurden, um sie zur Ausreise aus der Schweiz zu bewegen. Trotz Kritik vonseiten diverser Organisationen entschied das Bundesgericht in seinem Urteil vom 22. November 2013, dass diese Praxis im Einklang mit dem Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein gemäss Artikel 12 der Bundesverfassung steht. Trotz des dringenden Bedarfs infolge der Ankunft von Kriegs- und Gewaltopfern in der Schweiz existiert keine umfassende Unterbringungspolitik.

Literaturhinweise

Ansermet, C. & Tabin, J.-P. (2014). Misère de la gestion de la misère. Le Sociographe, 48, 45–55.

Bochsler, Y., Ehrler, F., Fritschi, T., Gasserl, N., Kehrli, C., Knöpfel, C. & Salzgeber, R. (2016). Wohnversorgung in der Schweiz. Bestandsaufnahme über Haushalte von Menschen in Armut und in prekären Lebenslagen. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Stern, S., Trageser, J., Rüegge, B. & Iten, R. (2014). Maisons d’accueil pour femmes en Suisse: analyse de la situation et des besoins. Zurich: INFRAS.

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