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Opferhilfe

Susanne Nielen Gangwisch


Erstveröffentlicht: December 2020

Seit dem 1. Januar 1993 sind die Rechte der Opfer von Straftaten im Opferhilfegesetz (OHG) geregelt. Ein Anspruch nach dem OHG besteht, wenn eine Person durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist. Unmittelbarkeit heisst, dass die Folgen im direkten Zusammenhang mit der Straftat stehen müssen. Indirekt Betroffene wie z. B. Zeuginnen und Zeugen einer Straftat sind vom OHG ausgenommen. Unter das OHG fallen auch die Angehörigen eines Opfers. Es gibt keine Altersbeschränkung und die aufenthaltsrechtliche Situation einer betroffenen Person spielt keine Rolle, solange die Straftat in der Schweiz geschehen ist. Bei einer Straftat im Ausland muss das Opfer im Zeitpunkt der Straftat und der Gesuchstellung Wohnsitz in der Schweiz haben.

Mit einer sehr hohen Zustimmungsrate von über 80 % wurde das Opferhilfegesetz aufgrund einer Initiative der Zeitschrift «Beobachter» im Jahr 1984 angenommen. Die Organisation der Beratungsstellen wird von vielen Kantonen an private Stiftungen oder Vereine delegiert, manche Kantone führen die Opferhilfeberatung selber. Auch wenn die Beratungsstellen zur kantonalen Verwaltung gehören, legt das Gesetz fest, dass die Beratungsstellen fachlich selbstständig funktionieren müssen. Um die wirkungsvolle und einheitliche Anwendung des Bundesgesetzes zu unterstützen und die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen zu fördern hat die Konferenz der Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) die Schweizerische Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz (SVK-OHG) gegründet. Die SVK-OHG gibt u. a. Empfehlungen zur Anwendung des OHGs heraus. Leider konnten sich die Kantone nicht auf die verbindlichere Form von Richtlinien zur Anwendung einigen. Es wäre wünschenswert, wenn alle Kantone zumindest die Empfehlungen verbindlich umsetzen würden. Nur so kann eine Ungleichbehandlung von Opfern in den einzelnen Kantonen verhindert werden.

In den ersten Jahren nach Einführung wurde schnell klar, dass das Gesetz eine Anpassung benötigte, um minderjährige Opfer besser zu schützen. Mit einer Teilrevision wurden 2001 die Rechte von Minderjährigen verstärkt. Politische Befürchtungen, dass das Opferhilfegesetz aufgrund der geleisteten Genugtuungszahlungen zu teuer würde, führten 2009 zu einer Totalrevision des Gesetzes. Seitdem sind Leistungen für Straftaten im Ausland sehr eingeschränkt, die Beratungsleistungen blieben aber unverändert. Dabei sollte beachtet werden, dass für die Opferhilfe immer noch nur einen Bruchteil der Kosten aufgewendet werden muss, im Vergleich zu den Kosten rund um angeschuldigte und verurteilte Personen.

Die Stärke des schweizerischen Opferhilfegesetz liegt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern darin, dass nicht nur die finanzielle Entschädigung für Opfer geregelt wird, sondern ein Hauptaugenmerk auf den Aspekt der Beratung der Opfer gelegt wird. Ein Vergleich mit Deutschland zeigt beispielsweise, dass Opferhilfe dort nur auf freiwilliger, teilweise ehrenamtlicher Basis geleistet werden kann und es keinerlei finanzielle Entschädigungen vom Staat für Opfer von Straftagen gibt. Auch in der Schweiz können nicht alle entstandenen Kosten durch die Opferhilfe gedeckt werden, aber wichtige und notwendige Hilfen wie beispielsweise die Kosten für eine Rechtsvertretung, psychotherapeutische Hilfe oder unter Umständen eine Genugtuung können übernommen werden.

Die Aufgaben der Beratungsstellen umfassen die angemessene juristische, psychologische, soziale, materielle und medizinische Hilfe. Bei einem telefonischen oder persönlichen Erstkontakt wird von der Beraterin/dem Berater zusammen mit der betroffenen Person eine Standortbestimmung gemacht. Dabei werden die wichtigsten Bereiche wie Sicherheit, psychische Situation, rechtliche und finanzielle Folgen analysiert: Neben der Vermittlung von anderen Fachpersonen ist die Hauptaufgabe der Opferberatungsstellen die psychosoziale Begleitung der Betroffenen. Wie lange eine Beratung dauert, hängt vor allem von den Bedürfnissen einer betroffenen Person ab. Ziel der Beratung ist die Stabilisierung der psychischen, sozialen oder sonstigen Situation einer Person. Eine ressourcenorientierte Beratung ist dabei von zentraler Bedeutung im Kontakt mit Opfern. Eine betroffene Person kann nur dann die Opferrolle überwinden, wenn sie sich ihrer Stärken wieder bewusst ist. Die Beratungsstellen haben die Möglichkeit, finanzielle Soforthilfe zu leisten. Typischerweise fällt der Bedarf nach Soforthilfe unmittelbar nach der Straftat an, es kann aber auch später zu einer Situation kommen, in der das Opfer diese dringliche Hilfe benötigt. Über die finanzielle Soforthilfe hinaus kann zusätzliche finanzielle Hilfe z. B. für weitere Anwalts- oder Therapiestunden geleistet werden. Diese längerfristige Hilfe muss mit einem Gesuch beantragt werden und ist einkommensabhängig, wobei die Einkommensgrenzen recht grosszügig sind. Die Beratungsstellen unterstützen Betroffene bei der Einreichung dieses Gesuchs.

Das Opfer und seine Angehörigen haben unter gewissen Voraussetzungen Anspruch auf eine Entschädigung für den durch die Straftat erlittenen Schaden (beispielsweise Lohnausfälle, Behandlungs- oder Bestattungskosten). Keine Entschädigung wird für Sachschäden geleistet. Die Entschädigung ist einkommensabhängig. Ein Anspruch auf Genugtuung = Schmerzensgeld besteht dann, wenn das Opfer oder seine Angehörigen durch die Straftat besonders schwer beeinträchtigt wurden. Die Summen, die in der Schweiz im Rahmen einer Genugtuung über die Opferhilfe gewährt werden, sind nicht sehr hoch und dadurch umstritten. Dabei muss aber beachtet werden, dass es sich nicht um eine Versicherung handelt, die die Genugtuung bezahlt, sondern es sich um einen staatlichen Solidaritätsbeitrag handelt, der zum Ausdruck bringen soll, dass die staatliche Gemeinschaft die schwierige Situation des Opfers anerkennt.Entschädigungs- und Genugtuungsforderungen müssen spätestens fünf Jahre nach dem Tat Datum angemeldet werden. Bis zum 25. Geburtstag kann das Gesuch einreichen, wer als Kind Opfer eines schweren Delikts wurde.

Im Rahmen eines Strafverfahrens stehen dem Opfer einer Straftat besondere Rechte zu.Zu den wichtigsten Rechten gehören folgende: Begleitung durch eine Vertrauensperson zu allen Befragungen, Vermeidung einer Begegnung mit der beschuldigten Person, Befragung durch eine Person des eigenen Geschlechts, Ausschluss der Öffentlichkeit von Verhandlungen unter bestimmten Voraussetzungen, Information über Haft, Flucht und Entlassung der Täterschaft. Durch eine Straf- bzw. Privatklage kann sich ein Opfer aktiv am Strafverfahren beteiligen, die Bestrafung der angeschuldigten Person verlangen und finanzielle Forderungen geltend machen.

Gerade der letztgenannte Punkt wurde nach Einschätzung der Opferberatungsstellen durch die Einführung der neuen eidgenössischen Strafprozessordnung geschwächt. Viele Straftaten werden mit einem Strafbefehl abgehandelt, in dem die finanziellen Forderungen des Opfers nicht berücksichtigt werden. Eine Evaluation im Auftrag des Bundes hat 2015 empfohlen, die Stellung des Opfers im Strafverfahren zu verbessern. So sollten in Zukunft die finanziellen Forderungen des Opfers direkt im Strafbefehlsverfahren beurteilt werden und nicht in einem, kostenrisikoreichen Zivilprozess geltend gemacht werden müssen. Die heutige Praxis hat zur Folge, dass die Opfer kein Geld von der verurteilten Person erhalten oder die Opferhilfe einspringen muss.

Insgesamt stellte die Evaluation keinen dringenden Handlungsbedarf in der Opferhilfe fest. Darin spiegelt sich auch die Einschätzung der in der Opferhilfe Tätigen wieder, dass die Opferhilfe in der Schweiz an sich gut funktioniert und die Hilfe bei Opfern von Straftaten ankommt.

Literaturhinweise

Berset-Hemmer, V. (2015). Les prestations financières fondées sur la loi sur l’aide aux victimes d’infractions. Lugano: Commissione ticinese per la formazione permanente dei giuristi.

Gomm, P. & Zehntner, D. (Hrsg.) (2009). Kommentar zum Opferhilfegesetz: Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (3., überarb. Aufl.). Bern: Stämpfli.

Weber, J., Hilf, M.J., Hostettler, U., Sager, F., Geth, C. et al. (2015). Evaluation des Opferhilfegesetzes. Bern: Universität Bern.

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