Wörterbuch durchsuchen

Prävention und ­Gesundheitsförderung

Philippe Chastonay, Corina Wirth, Ursula Zybach, Thomas Mattig

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Bis zum Aufkommen der modernen Medizin und ihrer immer wirksameren Behandlungen hingen Wohlergehen und Lebenserwartung vielmehr vom «Vorbeugen» als vom «Heilen» ab. Ab Ende des 19. Jh. ermöglichten Hygienemassnahmen eine drastische Senkung der Säuglingssterblichkeit und trugen im Verlauf des 20. Jh. zu einer eindrücklichen Erhöhung der Lebenserwartung bei. Ab Mitte des 20. Jh. konnten mit der Entwicklung von Impfstoffen gegen zahlreiche Krankheiten nicht nur die Sterblichkeitsrate, sondern auch das Auftreten vieler Krankheiten verringert werden.

Eine neue Etappe der Prävention wurde 1986 mit der Verabschiedung der Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erreicht, in der es heisst: «Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können.» Die Ottawa-Charta definiert drei Strategien zur Erhaltung der Gesundheit von Individuen und Bevölkerungsgruppen. Die erste zielt darauf ab, durch Interessenvertretung (Advocacy) die für die Gesundheit notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die zweite soll durch Befähigung (Empowerment) alle in die Lage versetzen, ihr Gesundheitspotenzial zu entfalten. Die dritte stützt sich auf die Vermittlung und Vernetzung (Mediation) zwischen den verschiedenen Akteuren, um ein gemeinsames Engagement für die Gesundheit zu erreichen. Aus diesen Strategien leiten sich eine Reihe von Massnahmen zur Gesundheitsförderung ab, die in der Charta wie folgt zusammengefasst werden: «Eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik entwickeln, gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen, gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen, persönliche Kompetenzen entwickeln, die Gesundheitsdienste neu auf die Prävention und Gesundheitsförderung ausrichten.»

Für die Prävention und Gesundheitsförderung ist es tatsächlich von entscheidender Bedeutung zu verstehen, welche Faktoren die Gesundheit von Individuen und Bevölkerungsgruppen bestimmen. Im Laufe der Zeit hat sich herausgestellt, dass folgende drei Hauptbereiche hinsichtlich Gesundheit und Krankheit eine zentrale Rolle spielen: Erstens das soziale und ökonomische Umfeld der Gemeinschaften und Individuen, zweitens ihre physische Umwelt und schliesslich die biologischen Eigenschaften und Verhaltensweisen jedes Einzelnen. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die WHO darum bemüht, auf die Wichtigkeit der sozialen Determinanten für den Gesundheitszustand von Individuen und Bevölkerungsgruppen hinzuweisen, welche im Mittelpunkt von Massnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung stehen sollten. Zusammenfassend sind folgende soziale Determinanten festzuhalten: Einkommensniveau und sozialer Status, Bildungsniveau, Berufstätigkeit und insbesondere Selbstbestimmung bei der Arbeit, Qualität des sozialen Netzwerks, Organisation der Gesundheitsdienste und der dazu zur Verfügung stehenden Mittel, auch im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung.

Nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit haben chronische, nichtübertragbare Krankheiten (Non-communicable Diseases, NCDs) stark zugenommen. Die UNO hat das Problem zu einer absoluten Priorität erklärt, denn NCDs verursachen nicht nur viel Leid bei den Betroffenen und ihren Angehörigen, sondern auch 80 % der gesamten Gesundheitskosten. Prävention und Gesundheitsförderung im oben erwähnten Rahmen bilden eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung der NCDs. Die internationalen Empfehlungen stützen sich auf ein Fünf-Punkte-Konzept: Leadership, Prävention/Gesundheitsförderung, Behandlung, internationale Zusammenarbeit und Monitoring. Die Leadership muss von den politischen Behörden sichergestellt werden, was bedeutet, die Bekämpfung der NCDs ganz oben auf die politische Agenda zu setzen und einen multisektoralen Ansatz für die Folgeprobleme der NCDs zu verfolgen. Im Bereich Prävention/Gesundheitsförderung müsste die Priorität auf die Kontrolle der Hauptrisikofaktoren für NCDs gelegt werden, da solche Massnahmen am wirksamsten und effizientesten sind (Best-Buy-Interventionen). Die bedeutendste unter diesen Massnahmen ist die Bekämpfung der Tabakabhängigkeit durch die Umsetzung des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakgebrauchs, das bis 2040 eine tabakfreie Welt anstrebt. Weitere Schwerpunkte sind die Senkung des täglichen Salzkonsums auf weniger als fünf Gramm pro Person bis 2025, die Verringerung des Alkoholkonsums sowie die Förderung der gesunden Ernährung und der täglichen körperlichen Bewegung vom jüngsten Kindesalter an. Diese Massnahmen verursachen relativ geringe Kosten (je nach Land schätzungsweise 0,5 bis 4 US-Dollar pro Person und Jahr). Im Bereich der Behandlung ist die Grundversorgung zu stärken, um allen, die anfällig auf nichtübertragbare Krankheiten sind, den Zugang zu einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung zu angemessenen Kosten zu ermöglichen. Der Begriff «internationale Zusammenarbeit» unterstreicht die Notwendigkeit, den Kampf gegen NCDs weltweit vorrangig zu behandeln, indem angemessene Ressourcen dafür bereitgestellt werden und Synergien mit anderen globalen Prioritäten im Gesundheitsbereich, wie beispielsweise den Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit, geschaffen werden. Das Monitoring schliesslich beinhaltet die Überprüfung des Erreichens der gesetzten Ziele, was eine seriöse Überwachung und die Bereitstellung angemessener Ressourcen voraussetzt.

Das Engagement zugunsten von Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz hat im letzten Jahrhundert zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung beigetragen. So ist die Säuglingssterblichkeit in der Schweiz von 15 % im Jahr 1900 auf 3.3 ‰ im Jahr 2018 gefallen. Im selben Zeitraum stieg die Lebenserwartung bei Geburt von 46 Jahren für Männer und 49 Jahren für Frauen auf 82 bzw. 85 Jahre.

Wie alle Länder steht auch die Schweiz vor grossen Herausforderungen im Bereich des Gesund­heitswesens, insbesondere infolge der zunehmenden Belastung durch NCDs, aber auch durch das Auftreten neuer Krankheiten. Auf nationaler Ebene wurden die gesundheitspolitische Strategie «Gesundheit 2030» und «Nationale Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD-Strategie)» verabschiedet. Gesundheit 2030 konzentriert sich auf die vier dringlichsten Herausforderungen – den technologischen und digitalen Wandel, die demographischen und gesellschaftlichen Veränderungen, den Erhalt einer qualitativ hohen und finanziell tragbaren Versorgung und die Chancen auf ein Leben in Gesundheit – verbunden mit acht Zielen und 16 Massnahmen. Die NCD-Strategie legt den Schwerpunkt auf Prävention und Gesundheitsförderung und zielt insbesondere auf die häufigsten NCDs ab, nämlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, chronische Atemwegserkrankungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates. Diese beiden Strategien wurden vor dem Beginn der Corona-Pandemie verabschiedet. Sie verlieren vor dem Hintergrund von Covid-19 ihre Gültigkeit nicht, im Gegenteil: Unterdessen zeichnet sich ab, dass gerade Patientinnen und Patienten, die an NCDs wie Bluthochdruck, Diabetes oder koronaren Herzkrankheiten leiden und deren Gefässe bereits geschädigt sind, bei einer Covid-19-Erkrankung mit einem besonders schweren Verlauf und mit Langzeitschäden der Organe rechnen müssen. Die Corona-Pandemie zeigt eindrücklich die Wichtigkeit von Gesundheitsförderung und Prävention.

Literaturhinweise

Chastonay, P., Zybach, U. & Mattig, T. (2016). Promotion de la santé et prévention des maladies et leurs acteurs. Dans W. Oggier (Éd.), Système de santé suisse 2015–2017: survol de la situation actuelle (5e éd. entièrement rév., pp. 337–352). Berne: Huber.

International Conference on Health Promotion (1986) & World Health Organization. Division of Health Education and Health Promotion (1995). Health promotion: Ottawa Charter = Promotion santé, Charte d’Ottawa. Geneva: WHO.

World Health Organization. Social determinants of health. https://www.who.int/social_determinants/en/

nach oben