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Redistribution

Michael Nollert


Erstveröffentlicht: December 2020

Redistribution bezeichnet Prozesse und Ergebnisse finanz- und sozialpolitischer Massnahmen, die die primäre Verteilung von Einkommen und Vermögen beeinflussen. Unter Primärverteilung versteht man die Verteilung der in Marktprozessen erzielten Einkünfte und Kapitalerträge. Dagegen meint Sekundärverteilung die Verteilung der Einkommen nach Staatseingriffen, wobei eingeräumt wird, dass auch die Primärverteilung politisch strukturiert ist.

Vom modernen Sozialstaat wird erwartet, dass sich seine Aktivitäten am Solidaritätsprinzip orientieren und daher zum Abbau der ökonomischen Ungleichheiten beitragen, und zwar sowohl interpersonell als auch intergenerationell. Der Staat verfügt grundsätzlich über zwei Hauptinstrumente, um die primäre Einkommens- und Vermögensungleichheit zu verringern, nämlich die sozialen Transfers (Ausgaben) und die Besteuerung (Einnahmen). Soziale Transferleistungen und Sozialversicherungen sind in den meisten Ländern in der OECD so konstruiert, dass die armen Einkommensquantile mehr profitieren als die wohlhabenden. Umstritten ist nur, ob die universellen Sozialversicherungen nach skandinavischem Vorbild mehr Umverteilung von oben nach unten implizieren als die gezielten Transfers zugunsten von Armen. Analog zu den Sozialtransfers sorgt die progressive Besteuerung der Einkommen und Vermögen dafür, dass die oberen Einkommensquantile nicht nur absolut, sondern auch relativ mehr Steuern bezahlen. Beide Prozesse bewirken im Idealfall eine Reduktion der Ungleichheit. Ob das zutrifft, zeigt die sogenannte Lorenzkurve: Die Grafik indiziert, wieviel% der Bevölkerung über wieviel% einer Ressource verfügen, und bildet damit die Berechnungsbasis des Gini-Index.

In verschiedenen Kontexten, z.B. Lateinamerika, aber auch dort, wo Partikularinteressen einflussreich sind, z.B. Bauern, Pensionierte, verteilt der Staat aber auch häufig genug von «unten nach oben» um. Die Ungleichheit nimmt also zu, wenn die Transferleistungen nicht bei den weniger Privilegierten ankommen oder einkommensstarke Berufsgruppen begünstigen, und wenn die Besteuerung degressiv wirkt, d.h. obere Einkommensquantile prozentual weniger belastet werden als die weniger privilegierten. Degressiv wirken aber auch Konsumsteuern, Kopfsteuern, Gebühren und nicht zuletzt fixe Steuerabzüge, die aufgrund der Progression umso mehr lohnen, je höher die Einkünfte sind, z.B. Kinderabzüge, Beiträge an die Altersvorsorge. Neben den beiden vertikalen Umverteilungseffekten (von oben nach unten, von unten nach oben) sind auch horizontale Effekte denkbar. Das ist z.B. bei Sozialversicherungen erkennbar, wenn Beiträge und Leistungen linear korrelieren.

Auch wenn der Umverteilungsdiskurs in der Regel auf den Sozialstaat fokussiert, ist nicht zu übersehen, dass auch andere staatliche Ressorts Umverteilung bewirken. Denken wir nur an die Subventionierung von Privatunternehmen oder der Landwirtschaft. Redistributiv wirkt auch die teure, für Studierende quasi kostenlose Tertiärbildung, die im Unterschied zur Primärbildung aufgrund der geringen Bildungsmobilitätschancen von Kindern aus tieferen Einkommensschichten eher eine Umverteilung von unten nach oben impliziert. Umverteilungsprozesse finden aber auch zwischen politischen Subeinheiten statt. So ist in vielen Ländern und selbst in der Europäischen Union vorgesehen, dass finanzstarke Körperschaften wie etwa der Kanton Zug oder Deutschland schwächere wie etwa der Kanton Jura oder Griechenland unterstützen und damit auch die interpersonellen Ungleichheiten verringern. Private Sozialausgaben bewirken dagegen keine vertikale Umverteilung.

In der Schweiz wirken einerseits Sozialtransfers egalisierend, allen voran die AHV, und die Sozialhilfe. Andererseits ist die Besteuerung der Einkünfte (Einkommen, Kapital) im Bund und in den meisten Kantonen progressiv, und zwar sowohl bei den Einkommen als auch bei den Vermögen und Erbschaften. Umverteilung bewirken auch die Finanzausgleiche zwischen Kantonen und Gemeinden, indem sie u. a. zur Entlastung von Einwohnern und Einwohnerinnen in Hochsteuerregionen beitragen.

Allerdings ist nicht zu übersehen, dass viele Kantone die Progressivität vor allem bei den oberen Einkommensquantilen verringert oder eliminiert und einige Kantone nach osteuropäischem Vorbild eine verteilungsneutrale flat tax (konstanter, also nicht progressiver Einkommenssteuersatz) einführen wollen. Auch die Erbschaftssteuern sind in vielen Kantonen abgeschafft worden. Nicht zu vergessen ist auch, dass viele Abzüge in der Steuerklärung degressiv wirken, allen voran die Kinderabzüge und die Beiträge an die 3. Säule. Hinzu kommt, dass die steuerliche Belastung und der Progressionsgrad, aber auch die Gebühren nicht nur zwischen Kantonen, sondern auch zwischen den Gemeinden extrem variieren. Entsprechend bietet die Niederlassungsfreiheit für einkommensstarke Personen die einzigartige Gelegenheit, sich durch die Wahl des Wohnsitzes in einer fiskalisch gering belasteten Gemeinde vor der staatlichen Umverteilung zu schützen.

Im Vergleich zu anderen Ländern fällt die Schweiz folglich vor allem durch drei Besonderheiten auf. Erstens tragen die Sozialtransfers bis auf die AHV und die Sozialhilfe nur bescheiden zu einem Abbau der primären Ungleichheit bei. Zweitens lassen sich bei der Besteuerung extreme regionale Variationen erkennen. Drittens ist die Konsumbesteue- rung vergleichsweise moderat, wobei mit den einkommensunabhängigen Krankenkassenprämien und gewissen Steuerabzügen auch degressiv wirkende Elemente erkennbar sind.

Die Schweiz gehört somit in der OECD zu den Ländern mit einer vergleichsweise geringen Umverteilung. Bei den Sozialtransfers wirken lediglich die AHV und die Sozialhilfe substanziell ausgleichend, bei den Steuern die progressiven Einkommens- und Vermögenssteuern. Bei der Sozialhilfe gilt jedoch zu beachten, dass die sogenannten Schwelleneffekte verteilungspolitisch problematisch sind. So kann ein Haushalt mit einem Bruttoeinkommen, das sich leicht oberhalb solcher Schwellen bewegt, über weniger verfügbares Einkommen verfügen als ein Haushalt, dessen Einkommen die Schwellen nicht übersteigt.

Der politische Zeitgeist spricht zweifellos weder für eine politische Restrukturierung der primären Einkommensungleichheiten noch weitere vertikale Redistributionsanstrengungen. So finden wir Opposition sowohl im Neoliberalismus (z.B. Avenir Suisse) als auch in der Sozialdemokratie (Schröder-Blair-Papier 1999). In der Schweiz scheint allen voran die Sozialhilfe im Unterschied etwa zu den eher horizontal wirkenden Sozialversicherungen an Rückhalt in der erwerbstätigen Bevölkerung zu verlieren. Ein Abbau an Umverteilung zeichnet sich auch in der Steuerpolitik ab. Denken wir nur an den interkommunalen und -kantonale Steuerwettbewerb, der die Verringerung der Steuersätze und der Progression vorantreibt, die Einführung der flat tax in einigen Kantonen und die schleichende Verlagerung von der direkten, vornehmlich progressiven zur indirekten, vornehmlich degressiven Besteuerung. Hinzu kommt, dass die reicheren Kantone den interkantonalen Finanzausgleich inzwischen in Frage stellen und die räumlich-soziale Segregation zwischen Hoch- und Tiefsteuerregionen anzusteigen droht. Dieser Entsolidarisierungstrend gefährdet letztlich nicht nur die soziale Kohäsion der Schweiz im Allgemeinen, sondern vor allem auch die sozialstaatliche Kapazität, die im Kapitalismus erzeugten Ungleichheiten zu verringern.

Literaturhinweise

Caminada, K., Goudswaard, K., Wang, C., Wang, J. (2019). Has the redistributive effect of social Transfers and taxes changed over time across countries? International Social Security Review, 72, 3–31.

Goudswaard, K., Caminada, K. (2010). The redis- tributive effect of public and private social programmes: a cross-country analysis. Interna­ tional Social Security Review, 63, 1–19.

Kenworthy, L. (2011). Progress for the poor. Oxford: Oxford University Press.

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