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Reform der Sozialen Sicherheit

Frédéric Widmer

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Das heutige System der Sozialen Sicherheit der Schweiz ist das Ergebnis verschiedener Reformvorschläge, die seit 1890 – dem Jahr, in dem die Zuständigkeit des Bundes für die soziale Sicherheit in der Verfassung Aufnahme fand – angenommen oder abgewiesen wurden. Die offiziellen Vorlagen auf Bundesebene, die von der Regierung oder den Eidgenössischen Räten eingebracht werden können, sind Gegenstand dieses Beitrags.

Ein wichtiges Merkmal des Entscheidungsprozesses besteht in der Suche nach einem Kompromiss und der daraus resultierenden Langwierigkeit des Verfahrens. Dies liegt insbesondere daran, dass jene Akteure in den Entscheidungsprozess eingebunden werden, die ein Referendum organisieren können. Fakultative und obligatorische Referenden können die Umsetzung von Reformvorschlägen erheblich verzögern. So wurde beispielsweise die Mutterschaftsversicherung vor ihrer Annahme im Jahr 2004 drei Mal abgelehnt (1984, 1987, 1999). Volksinitiativen im Bereich der Sozialpolitik werden zwar von der Bevölkerung häufig abgewiesen. Manchmal stehen offizielle Vorlagen des Bundes indes mit diesen Initiativen in Verbindung, etwa wenn der Bund einen Gegenvorschlag unterbreitet – wie 1972 bei der Annahme des Drei-Säulen-Modells in der Altersvorsorge.

Für Reformvorschläge auf Bundesebene sind das Subsidiaritätsprinzip sowie die föderale Struktur der Institutionen von entscheidender Bedeutung. Viele Bereiche der Sozialpolitik fallen nicht in den Kompetenzbereich des Bundes, sondern in jenen der Kantone oder der Gemeinden. Dies gilt insbesondere für die Familienpolitik, die Sozialhilfe (ausser im Flüchtlingsbereich), sowie die Kinder- und Jugendpolitik. Liegt die Zuständigkeit auf der kantonalen Ebene, kann der Bund eine subsidiäre Rolle einnehmen und in dieser Funktion beispielsweise durch die Schaffung bestimmter Anreize intervenieren, um eine Weiterentwicklung der kantonalen bzw. kommunalen Politik zu fördern. Das 2003 in Kraft getretene Impuls­programm zur Schaffung von Plätzen für die Tagesbetreuung von Kindern ist das Paradebeispiel für eine solche subsidiäre Förderpolitik des Bundes. Durch die Subventionierung der Einrichtung neuer Betreuungsplätze über einen begrenzten Zeitraum hat der Bund sein Ziel erreicht, dauerhaft mehr Tagesbetreuungsplätze für Kinder zu schaffen. Die subsidiäre Rolle des Bundes zeigt sich auch daran, dass sich viele Reformen auf bereits bestehende Einrichtungen abstützen. So hatten Unternehmen, Branchen, Gemeinden und Gewerkschaften längst Pensions- oder Arbeitslosenkassen eingerichtet, bevor sie auf Bundesebene obligatorisch wurden.

Inhaltlich werden die Reformvorschläge natürlich durch den jeweiligen (wirtschaftlichen, sozialen, demografischen, politischen usw.) Kontext beeinflusst. So wurde die Arbeitslosenversicherung in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund des massiven Verlusts von Arbeitsplätzen eingeführt. Die jüngsten Reformen der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und der beruflichen Vorsorge (BVG) sind ohne den demografischen Kontext nicht nachzuvollziehen. Drei weitere Merkmale kennzeichnen die Reformvorschläge: ihr inkrementeller Charakter, ihre sektorielle Natur und die Tatsache, dass sie sich häufig im Spannungsfeld zwischen Leistungskürzungen und Ausgleichsmassnahmen bewegen. Um ihre Annahme im Rahmen eines Konsenssystems und unter Berücksichtigung der zahlreichen Vetopunkte zu begünstigen, sind die Reformen im Allgemeinen inkrementeller Natur. Das heisst: Es handelt sich häufig um schrittweise vorgenommene Anpassungen, die nach einer relativ kurzen Zeit überdacht werden müssen. Die sektorielle Natur der Reformen ist ebenfalls charakteristisch. Jedes Element der Sozialen Sicherheit hat sich separat herausgebildet und entwickelt, um jeweilige spezifische Risiken zu decken, und es folgt auch einer eigenen Finanzierungs- und Organisationslogik. Entsprechend sind unterschiedliche Kassen und Leistungen Gegenstand separater Reformvorschläge, selbst wenn sie mitunter dieselben (finanziellen, demografischen usw.) Problematiken oder Ziele (berufliche Integration) haben. Schliesslich scheinen Reformvorschläge, die eine Absenkung der sozialen Sicherheit anstreben, im Rahmen eines Referendums nur in Begleitung von Ausgleichsmassnahmen akzeptiert zu werden. Diesem Umstand tragen die Reformvorschläge inhaltlich oft Rechnung. Es ist dies eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung, die den politischen Erfolg nicht automatisch garantiert.

Diese drei Merkmale lassen sich anhand der wichtigsten laufenden oder kürzlich behandelten Reformvorhaben (Stand: Dezember 2017) veranschaulichen. Die in der Volksabstimmung im September 2017 mit knapper Mehrheit abgelehnte Reform der Altersvorsorge 2020 zielte hauptsächlich darauf ab, die Leistungen sowie das finanzielle Gleichgewicht der AHV und der zweiten Säule aufrechtzuerhalten. Die Vorlage sah insbesondere vor, ein einheitliches Referenzalter von 65 Jahren für Männer und Frauen einzuführen und gleichzeitig das Rentenalter zu flexibilisieren. Der Mindestumwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge (BVG) sollte schrittweise gesenkt werden. Eine Reduzierung des BVG-Rentenniveaus war – unter anderem – dank der Senkung des Koordinationsabzugs nicht zu erwarten. Im Rahmen der Reform war ausserdem eine Leistungssenkung für Witwen und Witwer geplant. Zudem sollte eine Senkung der Eintrittsschwelle in die obligatorische berufliche Vorsorge den Schutz einkommensschwacher Personen erhöhen. Des Weiteren sollte eine Zusatzfinanzierung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer gewährleistet werden und ein Interventionsmechanismus frühzeitige Massnahmen zur Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts der AHV ermöglichen. Dieser Reformversuch veranschaulicht sehr gut den inkrementellen Charakter der Reformvorschläge, denn die Lösung des Finanzierungsproblems war nur bis 2030 vorgesehen. Durch die (umstrittene) Verknüpfung von AHV und BVG ist dieser Reformversuch gleichzeitig eines von wenigen Gegenbeispielen für Reformvorhaben, die über einen Sektor hinausgehen. Gleichzeitig spiegelt er das Bemühen wider, finanzielle Prioritäten mit Ausgleichsmassnahmen zu verbinden. So sollte beispielsweise die Anhebung des Referenzalters für Frauen auf 65 Jahre durch Massnahmen zugunsten von einkommensschwachen Frauen (Absenkung der Eintrittsschwelle zur zweiten Säule) kompensiert werden. Frühere auf die Erhöhung des Rentenalters oder die Absenkung des Mindestumwandlungssatzes abzielende Reformvorschläge, die keine eindeutigen Ausgleichsmassnahmen vorsahen, waren bei Volksabstimmungen in den vergangenen Jahren viel deutlicher gescheitert als die Reform der Altersvorsorge 2020. Abzuwarten bleibt, ob erneute Initiativen in dieser Richtung auch mittelfristig abgelehnt werden, derweil 2019 die Annahme des STAF-Pakets (Steuer- und AHV-Finanzierung) der AHV neue Gelder zufliessen lässt.

Die laufenden und kürzlich abgeschlossenen Reformen im Bereich der Invalidenversicherung («Weiterentwicklung der IV») sind ebenfalls inkrementeller Natur insofern, als sie einen bestehenden Gedanken vertiefen – nämlich den der Eingliederung. Dieser Aspekt war bereits bei Einführung der IV im Jahr 1960 ein zentrales Ziel. Der aktuelle Reformvorschlag zielt auf Kinder (Überarbeitung der Liste der Geburtsgebrechen), Jugendliche (Massnahmen zur Unterstützung der Übergänge von der Schule in die Berufsbildung und ins Erwerbsleben) und Versicherte mit psychischen Beeinträchtigungen (Ausbau bzw. Umsetzung von Massnahmen) ab. Darüber hinaus soll der Anreiz zur Rückkehr in die Erwerbstätigkeit durch die Einführung eines stufenlosen Systems für neue Renten erhöht und verstärkt mit Ärztinnen und Ärzten sowie Arbeitgebenden zusammengearbeitet werden. Die sektorielle Natur der laufenden und kürzlich abgeschlossenen Reformen der IV lässt sich daran erkennen, dass das Ziel der beruflichen Eingliederung im Rahmen der Versicherung aufgewertet und nicht in einem grösseren Zusammenhang mit anderen, dasselbe Ziel verfolgenden Akteuren der Sozialen Sicherheit (Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Migrations- und Bildungsbereich) neu durchdacht wurde. Die insbesondere im Rahmen der IVG-Revisionen 5 und 6a ergriffenen Ausgleichsmassnahmen bestehen in der konsequenten Erhöhung der Finanzmittel, die für die Eingliederung der Versicherten zur Verfügung stehen. Parallel dazu wird die Verringerung der Rentenzahl angestrebt. Diese muss mit besseren Chancen zur Arbeitsmarktintegration einhergehen. Im Rahmen des laufenden Reformvorschlags soll die Weiterentwicklung der IV kostenneutral ausgestaltet werden. Der Verdacht, es gehe um eine Sanierung zulasten möglicher «Verlierer», lässt sich somit nur schwer halten.

Die genannten Reformmerkmale (inkrementeller und sektorieller Charakter sowie Ausgleichsmassnahmen) beruhen darauf, dass die Akteure nach einem Gleichgewicht suchen und Anpassungen schrittweise vornehmen. Sie sind Ausdruck der allgemeinen Stabilität des politischen Systems in der Schweiz, machen dieses System aber auch anfällig für mögliche Schocks, die schnelle und radikale Innovationen erfordern würden. Diese Schocks können wirtschaftlicher, demografischer, sozialer oder auch technologischer Natur sein, wie die derzeitigen Diskussionen rund um die Digitalisierung oder die Corona-Pandemie zeigen. Abgesehen von den offiziellen Stellen können auch auf dem Weg der direkten Demokratie radikale Innovationen angestossen. Die 2016 abgelehnte Volksinitiative zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ist ein Beispiel hierfür.

Literaturhinweise

Bonoli, G. (1999). La réforme de l’État social Suisse: contraintes institutionnelles et opportunités de changement. Swiss Political Science Review, 5(3), 57–78.

Kriesi, H. & Trechsel, A. H. (2008). The politics of Switzerland: continuity and change in a consensus democracy. Cambridge: Cambridge University Press.

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