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Restorative Justiz

Claudio Domenig


Erstveröffentlicht: December 2020

Restorative Justiz (RJ) – meistens wird der englische Originalbegriff restorative justice verwendet – wird hierzulande namentlich als Wiedergutmachung und Mediation im Strafrecht thematisiert. RJ charakterisiert sich als Theorie und Praxis eines integrativen Umgangs mit Kriminalität: Einerseits durch ein integratives Verfahren, das die Beteiligten (Geschädigte, Delinquenten und die mitbetroffene Gemeinschaft) verstärkt und aktiv in die Tataufarbeitung einbezieht; andererseits durch ein integratives Ergebnis, das eine möglichst weitgehende Wiederherstellung der Integrität der Beteiligten anstrebt. Damit bietet RJ eine Alternative zum kriminalpolitisch vorherrschenden exkludierenden Strafkonzept. Kriminalität wird in RJ weniger als Verletzung von Gesetzen und Staaten, sondern vielmehr als Verletzung von Menschen und Beziehungen verstanden. Die (Wieder-)Herstellung von gesunden Beziehungen ist daher ein wichtiges Ziel der RJ.

International wird RJ in einer Vielfalt von Erscheinungsformen diskutiert und praktiziert. Diese Vielfalt ist Ausdruck der unterschiedlichen Traditionen und Denkmodelle, welche an der Entstehung und Entwicklung der (ca. in den 1970er Jahren einsetzenden) modernen RJ-Bewegung beteiligt waren. Zunächst ist RJ tief verwurzelt im kulturellen Erbe einer informellen Justiz, die insbesondere in den Konfliktlösungspraktiken indigener Völker weiter besteht. Auch in spirituellen Traditionen der Weltreligionen finden sich die Grundmuster einer wiedergutmachenden, versöhnenden, heilenden Gerechtigkeit. Sodann stützt sich RJ auf kriminologische Ansätze und politische Bewegungen neueren Datums, namentlich die Viktimologie mit ihrer Feststellung der Vernachlässigung von Opferbelangen in der herkömmlichen Strafjustiz, die kritische Kriminologie mit ihrer grundsätzlichen Hinterfragung staatlichen Strafens, bis hin zu abolitionistischen Forderungen nach einer Überwindung der Gefängnisstrafe, sowie auch kommunitaristische Strömungen mit ihrem Anliegen der Rückbesinnung auf die Bedeutung und den Wert der Gemeinschaft.

Eine Vielfalt an Konzepten besteht auch bezüglich des Verhältnisses von RJ zum Kriminaljustizsystem, entsprechend der unterschiedlichen Bewertung von formeller und informeller Macht und (Sozial-)Kontrolle, von rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien, und von der Rolle von ExpertInnen und Gemeinwesens im Umgang mit Kriminalität (Delegation versus Partizipation). So findet sich einerseits die Sichtweise, RJ sei ein gegenüber dem herkömmlichen Strafkonzept genuin verschiedener Ansatz und müsse daher möglichst ausserhalb des Kriminaljustizsystems positioniert sein. Gemeinschaftsbasierte, von Freiwilligen getragene Programme sind Ausdruck eines derartigen Verständnisses. Demgegenüber steht die Forderung, RJ soweit als möglich in das Kriminaljustizsystem einzubringen und dieses dadurch zu reformieren. So werden etwa dialogische Begegnungen zwischen Beschuldigten und Geschädigten zum möglichen Verfahrensinstrument und die Wiedergutmachung des Schadens zur Sanktionsalternative für Strafverfolgungsbehörden und Gerichte. Als Mittelweg zu den obengenannten Positionen findet sich RJ als Diversionsform am Rand des Kriminaljustizsystems. So kann etwa die Strafbehörde einen Fall einer externen Mediationsstelle zur Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs zuweisen und bei Gelingen der Mediation das Strafverfahren einstellen.

Hierzulande steht das Verständnis von RJ als Diversionsform und als Instrument die Täter-Opfer-Mediation mit Fokus auf das individuelle Opfer und dessen Beziehung zur beschuldigten Person im Vordergrund. RJ umfasst jedoch weit mehr Instrumentarien als das Modell der Täter-Opfer-Mediation. Darüber hinausgehende, ein weiteres Netzwerk bzw. die Gemeinschaft integrierende Modelle – sogenannte circles und family group conferences – werden hier jedoch erst in vereinzelten Projekten umgesetzt. Elemente der Wiedergutmachung finden dafür in sämtlichen Phasen des formellen Strafverfahrens Berücksichtigung: Im Vor- bzw. Untersuchungsverfahren, im Gerichtsverfahren, wie auch im Rahmen des Strafvollzugs.

RJ im Sinne eines partizipatorischen, wiedergutmachungsorientierten Verfahrensmodells ist in der Schweiz nach wie vor ein Randphänomen. Die Schweiz liegt bezüglich der gesetzlichen Verankerung auf Bundes­ebene und der praktischen Umsetzung von RJ im Vergleich zu seinen deutschsprachigen Nachbarstaaten rund zwei Jahrzehnte zurück. Allerdings ist das Gesamtbild von RJ in der Schweiz wesentlich durch die föderalistische Vielfalt dieses Landes gekennzeichnet. Einige progressive Kantone – namentlich Zürich und Freiburg – haben RJ seit über einem Jahrzehnt mit Modellprojekten und institutionalisierten Programmen, mit detaillierten gesetzlichen Grundlagen und einer erfolgreichen Praxis der Mediation im Strafrecht verwirklicht. In anderen Kantonen findet sich jedoch nichts der­gleichen.

Generell enthält das schweizerische Strafrecht durchaus eine beträchtliche Anzahl (ergebnisorientierter) integrativer und reparativer Elemente; deren Anwendung liegt allerdings primär in den Händen der Strafbehörden. Demgegenüber finden sich bloss wenige «vollwertige» (prozessorientierte) restorative Modelle, welche eine externe Fallbearbeitung implizieren würden. Der Umstand, dass das schweizerische Strafrecht relativ moderat und über weite Strecken integrativ ausgerichtet ist, kann der weiteren Etablierung von RJ hinderlich sein, da mit dem vorhandenen Instrumentarium der Druck zur Nutzung bzw. die Attraktivität von Alternativen verringert wird.

Im aktuellen kriminalpolitischen Klima, gekennzeichnet durch die Popularität rechts-konservativer, retributiv-straforientierter Ansätze, hat die gesetzliche Verankerung und praktische Anwendung integrativer, wiedergutmachungsorientierter Ansätze einen schweren Stand. Die weitere Verbreitung von RJ dürfte somit weiterhin über einzelne progressive regionale Programme, pionierhafte Initiativen und engagierte Individuen erfolgen. Die daraus resultierende örtlich unterschiedliche Verfügbarkeit von RJ ist allerdings unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit bzw. des rechtsgleichen Zugangs problematisch.

Grundsätzlich kritisch zu hinterfragen ist der im Adjektiv «restorativ» bzw. «wiedergutmachend» enthaltene Vergangenheitsbezug. Ein solcher ist insofern problematisch, als es für die Betroffenen in vielen Fällen notwendig oder wünschenswert ist, statt der Wiederherstellung eines vormaligen Zustandes die Schaffung einer neuen Realität anzustreben. Gerade bei schweren Straftaten ist die Idee der Wiedergutmachung sodann oft unzureichend oder gar vermessen; eher geht es dort für Betroffene soweit möglich um die Schaffung der Basis für einen Neuanfang. RJ hat demnach nicht nur «Restauration», sondern möglichst auch «Transformation» anzustreben. Diesbezüglich verorten manche RJ-Ansätze ein grosses Potenzial auch auf über-individueller, gemeinschaftlicher Ebene: Kriminalität wird hier als Ausdruck eines Bedarfs nach sozialem Wandel verstanden, weshalb deren Aufarbeitung nicht in blosser Symptombekämpfung und der Wiederherstellung vorbestehender dysfunktionaler Verhältnisse bestehen, sondern als Anstoss zur Neugestaltung von Gemeinschaften genutzt werden soll. Verstärkt findet sich dieses transformative Potenzial in RJ-Ansätzen, welche einen erweiterten Einbezug des Gemeinwesens befürworten (mit conferences- und circles-Verfahren). Für die künftige weitere Entwicklung von RJ können derartige integrative Modelle wegweisend sein.

Literaturhinweise

Domenig, C. (2008). Restorative Justice und integrative Symbolik: Möglichkeiten eines integrativen Umgangs mit Kriminalität und die Bedeutung von Symbolik in dessen Umsetzung. Bern: Haupt.

Perrier, C. (2009). La médiation en droit pénal suisse: étude de la législation suisse relative à la médiation pénale à la lumière des droits français, allemand et belge. Bâle: Helbing Lichtenhahn.

Zehr, H. (1990). Changing lenses: a new focus for crime and justice. Scottdale: Herald Press.

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