Selbsthilfe
Selbsthilfe im Allgemeinen und gemeinschaftliche Selbsthilfe im Speziellen ist von individueller Selbsthilfe und fachgeleiteten Selbsthilfegruppen zu unterscheiden. Sie kann unterschiedliche Formen annehmen. Die Vernetzung einzelner Personen miteinander, örtliche sowie virtuelle Selbsthilfegruppen, peer support und Selbsthilfeorganisationen sind verschiedene Ausprägungen der (gemeinschaftlichen) Selbsthilfe. Ihnen allen gemeinsam ist, dass Menschen mit demselben Problem, einem gemeinsamen Anliegen oder in einer gleichen Lebenssituation sich zusammenschliessen, um sich gegenseitig zu helfen. Direkt Betroffene sowie Angehörige erleben in der Selbsthilfe nicht nur Hilfe und Solidarität, sondern übernehmen durch die aktive Teilnahme Selbstverantwortung und erfahren Selbstbestimmung. Teilnehmende von Selbsthilfegruppen sind und werden «Expertinnen und Experten in eigener Sache». In den Selbsthilfegruppen werden Informationen diverser Art, Wissen und Erfahrungen gesammelt und es wird gegenseitige Hilfe innerhalb der Gruppe geleistet. Auch Hilfe für aussenstehende Gleichbetroffene und die Kooperation mit Versorgungseinrichtungen, Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung können geleistet oder angestrebt werden. Thematisch und inhaltlich lassen sich die Selbsthilfegruppen und -organisationen in Gruppen zu somatischen und psychischen Erkrankungen sowie Gruppen zu sozialen Lebensfragen unterscheiden. Die Gemeinschaftliche Selbsthilfe hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer wichtigen und anerkannten Säule des schweizerischen Gesundheits- und Sozialwesens entwickelt.
Die Form der Selbsthilfeorganisationen hat eine lange Tradition in der Schweiz. Zu Beginn des 20. Jh. entstanden die ersten Behinderten-Selbsthilfeorganisationen (Gehörlosenverein, Blinden- oder Invalidenverband). Das Fehlen von Sozialversicherungen trieb Behinderte damals in die Armut. Die aufkommende Arbeiterbewegung spornte Betroffene an, sich zu wehren und für ihre Rechte zu kämpfen. Heute leisten viele Selbsthilfeorganisationen mit einer Geschäftsstelle professionelle Hilfe an Betroffene, sie fördern die Selbsthilfe und initiieren und begleiten Selbsthilfegruppen. Selbsthilfeorganisationen arbeiten themenspezifisch zu einem medizinischen oder (psycho-)sozialen Indikationsgebiet. Sehr bekannt sind die Anonymen Alkoholiker (AA) oder auch die Krebsliga und die Rheumaliga. Selbsthilfeorganisationen sind meist sehr strukturiert und als gemeinnützige Vereine eingetragen. In der Regel erheben sie Mitgliederbeiträge.
Selbsthilfegruppen sind Zusammenschlüsse von Menschen, die gemeinsam ein für sie wichtiges Thema bearbeiten. Selbstverantwortung und gegenseitige Unterstützung sind tragende Elemente in Selbsthilfegruppen. In der Gruppe werden Erfahrungen und Informationen ausgetauscht, Fachwissen und praktische Bewältigungshilfen für den Alltag erarbeitet. Die Orientierung an den Ressourcen ist ein zentrales Anliegen. Die Gruppen werden nicht fachbegleitet. Die Gesprächsmoderation wird von Selbsthilfegruppenmitgliedern übernommen. Gruppen, welche punktuell oder konstant von einer Fachperson geleitet sind, zählen zu den Selbsthilfegruppen, wenn die Fachperson selber betroffen ist, sich gleichrangig in den Austausch einbringt und kein Honorar erhält. Wurden 2004 in der Schweiz noch 24 Selbsthilfegruppen pro 100 000 Einwohner gezählt, so waren es 2015 durchschnittlich bereits 32.
Die regionalen Selbsthilfezentren sind zuständig für die Förderung und Vernetzung von Selbsthilfegruppen zu allen Themen des Sozial- und Gesundheitsbereichs ihrer Region. Sie gewährleisten den Überblick über bestehende und geplante Selbsthilfegruppen ihres Zuständigkeitsgebietes und sind Anlauf-, Informations- und Beratungsstellen für und über Selbsthilfegruppen. Ihre fachliche Ausrichtung basiert auf dem Konzept des Empowerment und stellt die Förderung von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstveränderung der Betroffenen ins Zentrum. Die Mitarbeitenden verstehen sich als Wegbereitende für den Aufbau und die Begleitung von Selbsthilfegruppen. Mit Interessierten werden Fragen um den Beitritt oder die Gründung von Selbsthilfegruppen geklärt. 20 Selbsthilfezentren haben eine Leistungsvereinbarung mit Selbsthilfe Schweiz abgeschlossen.
Die Stiftung Selbsthilfe Schweiz wurde 1996 von den schweizerischen Selbsthilfezentren als Arbeitsgemeinschaft KOSCH (Koordination und Förderung von Selbsthilfegruppen in der Schweiz) gegründet. Ziel war es die Selbsthilfebewegung in der Schweiz in ihrer Gesamtheit zu betrachten und Strategien für eine öffentliche Finanzierung zu entwickeln. Im Jahr 2000 konnte der entscheidende Schritt zu einer Geschäftsstelle vollzogen werden. Seit 2001 besteht ein Leistungsvertrag mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), der für die Selbsthilfezentren die lange ersehnte öffentliche Anerkennung bedeutete und bei anderen öffentlichen Geldgebern eine Sogwirkung auslöste. 2010 wurde die Stiftung in Selbsthilfe Schweiz umbenannt und ein neuer Stiftungsrat formiert, um eine bessere Positionierung der Selbsthilfe im Gesundheitsbereich zu erreichen.
Gemäss einer von der Stiftung Selbsthilfe Schweiz in Auftrag gegebene und 2017 veröffentlichte Studie messen Teilnehmende den Selbsthilfegruppen Wirkungen auf sich selber und auf die eigene Situation sowie auf die Beziehung mit anderen zu: Mit der Teilnahme an einer Gruppe fühlen sich die Mitglieder besser. Sie haben weniger Schuldgefühle. Die Gruppenmitglieder fühlen sich mit der schwierigen Situation nicht allein gelassen. Praktische Lösungen können gefunden werden. Für einige bedeutet die Teilnahme auch, die Situation selber in die Hand zu nehmen und sie nicht einfach zu erleiden. Die Gruppenteilnehmenden verbessern ihre Beziehungen mit ihren Nahestehenden. Es werden untereinander neue Beziehungen geknüpft. Ihre Beziehungen zu den Fachleuten verbessern sich durch gezielteres Nachfragen und sie treffen vermehrt eigene Entscheidungen. Die erwähnten Wirkungen auf den persönlichen Lebensbereich der Gruppenmitglieder sowie auf die Beziehungen mit anderen werden von den befragten Fachpersonen nahezu vollumfänglich bestätigt. Auch Wirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes, ein allgemeines Wohlbefinden, werden hervorgehoben. Selbsthilfegruppen sollten als gesundheitlich relevante Präventionsmassnahme gefördert werden. Gleichzeitig wird auch auf den finanziellen Nutzen in Bezug auf die Gesundheitskosten hingewiesen.
Die Anerkennung der (gemeinschaftlichen) Selbsthilfe als Ergänzung im Gesundheits- und Sozialbereich hat in den letzten Jahren zugenommen. Nach wie vor ist die Finanzierung der Selbsthilfezentren und von Selbsthilfe Schweiz aber weiterhin unsicher bis mangelhaft. Es fehlt eine gesetzliche Verankerung der Förderung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe auf nationaler Ebene. Da sich über drei Viertel der erfassten Selbsthilfegruppen gesundheitsrelevanten Themen widmen, wäre eine primäre Situierung im Gesundheitswesen naheliegend. Als Modell könnte beispielsweise Deutschland dienen. Dort wurden die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet, pro versicherte Person gut einen Euro der Förderung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe zur Verfügung zu stellen. Eine weitere Herausforderung ist die weitere Vernetzung der Selbsthilfe mit anderen Akteuren des Sozial- und Gesundheitswesens. Dazu gehört die Zusammenarbeit mit anderen themenorientierten Patientenfachorganisationen und Betroffenen- und Angehörigenorganisationen, sowie mit Spitälern, psychiatrischen Kliniken und Diensten, Sozialberatungsstellen, Behindertenorganisationen, Selbsthilfeorganisationen und Gesundheitsligen. Ein offenes Anliegen ist auch das gezielte Einbringen der Selbsthilfe in der Aus- und Weiterbildung der Fachpersonen. Die Ergebnisse der Studie von 2017 zeigen, dass bestimmte Gruppen von Personen weniger von den Angeboten der Selbsthilfe profitieren als andere. Dies betrifft ganz allgemein jüngere Menschen, Männer, Personen mit einem Migrationshintergrund und Menschen mit tiefem Bildungsstand. Eine grosse Herausforderung ist es daher, Strategien und Bemühungen für eine breitere Beteiligung dieser Gruppen von Betroffenen zu entwickeln.
Literaturhinweise
Borgetto, B. (2004). Selbsthilfe und Gesundheit: Analysen. Forschungsergebnisse und Perspektiven in der Schweiz und in Deutschland. Bern: Huber.
Lanfranconi, L.M., Stremlow, J., Ben Salah, H. & Knüsel, R. (2017). Gemeinschaftliche Selbsthilfe in der Schweiz: Bedeutung, Entwicklung und ihr Beitrag zum Gesundheits- und Sozialwesen. Bern: Hogrefe.