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Solidarität

Stéphane Rossini

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Begriff «Solidarität» kann eine Doktrin, Handlungen, eine ethische Haltung oder ein Ideal bezeichnen. Die Solidarität beruht auf den Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichheit und beschreibt die Beziehung zwischen Menschen oder gesellschaftlichen Gruppen, die gemeinsame Interessen haben. Sie bringt das Anliegen zur Gegenseitigkeit zwischen den Akteuren, welche die Gemeinschaft bilden, zum Ausdruck. Der Begriff bezieht sich somit auf das Zusammenleben von Menschen und auf die öffentlichen Politikbereiche, die dieses Zusammenleben organisieren. Die bekanntesten den Solidaritätsgedanken verkörpernden Institutionen sind die Sozialversicherungen und die Sozialhilfe. Aber auch die Steuerpolitik, die staatlichen Umverteilungsmassnahmen, das Engagement der gemeinnützigen Organisationen sowie die Beziehungen zwischen den Generationen lassen sich unter den Begriff der Solidarität subsummieren.

In der Schweiz existieren die folgenden drei Solidaritätsebenen: 1) Die vertikale Solidarität regelt die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Arm und Reich. Sie kommt in der Steuerprogression, in der Einkommensabhängigkeit der Sozialbeiträge und in der Berücksichtigung der Wirtschaftskraft von natürlichen Personen bzw. Privathaushalten zum Ausdruck. 2) Die horizontale Solidarität beschreibt das Verhältnis zwischen bestimmten Bevölkerungskategorien – namentlich zwischen jenen Gruppen, die zur Finanzierung von Sozialleistungen beitragen und den Begünstigten der Solidaritätsmassnahmen. Als Beispiele hierfür sind die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, Erwerbstätigen und Erwerbslosen bzw. Rentnern und Rentnerinnen, Jungen und Alten, Männern und Frauen oder zwischen Konsumenten und Nichtkonsumenten. 3) Im Finanzausgleich kommt schliesslich die Solidarität zwischen den unterschiedlichen institutionellen Ebenen – also zwischen Bund und Kantonen einerseits sowie zwischen Kantonen und Gemeinden andererseits – zum Ausdruck. Der Finanzausgleich zielt darauf ab, die geo- und topografischen, soziodemografischen, wirtschaftlichen sowie finanziellen Unterschiede zwischen den Gebietskörperschaften auszugleichen, um den nationalen, kantonalen bzw. gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten.

Der Solidaritätsgedanke ist vergleichsweise neu. Der Philosoph Pierre Leroux dürfte der erste gewesen sein, der sich 1839 philosophisch unter Bezugnahme auf das Prinzip der Gleichheit mit dem Begriff der Solidarität befasste. Eingang in die Politik fand der Gedanke Ende des 19. Jh., als 1896 das Werk Solidarität des Nobelpreisträgers Léon Bourgeois erschien. Solidarität bedeutet aus seiner Sicht, individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Demnach profitiert jeder Mensch von den Vorzügen des gesellschaftlichen Lebens, woraus ihm Verpflichtungen gegenüber seinen Zeitgenossen und nachfolgenden Generationen erwachsen. Die Soziologen Alfred Fouillée (La Science sociale contemporaine, 1880) und Émile Durkheim (De la division du travail social, 1893) wiesen darauf hin, dass die durch einen Gesellschaftsvertrag miteinander verbundenen Individuen einerseits immer autonomer und andererseits immer abhängiger voneinander würden. Diese organische, vertragsbasierte und auf Kooperation beruhende Solidarität funktioniere indes nur, wenn die Staatsgewalt ihre gerechte Umsetzung garantiert. Der Solidaritätsgedanke bildet demnach das Kernstück der sozialen Sicherungssysteme, die ab dem Ende des 19. Jh. eingerichtet wurden. Er schlug sich bei der Gründung der regionalen und beruflichen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Versicherungsvereinen, der betrieblichen Vorsorgestiftungen und der Sozialversicherungen nieder und nahm – je nach den gestellten Forderungen, geschützten Bevölkerungsgruppen, gewährten Leistungen und Finanzierungsmodalitäten – unterschiedliche Formen an.

1942 verstand William Beveridge soziale Sicherheit als Kompromiss zwischen der Wahrung der individuellen Freiheitsrechte einerseits und der Existenz eines die gesellschaftliche und bürgerliche Solidarität fördernden, wohlwollenden Staates andererseits. Dieses Verständnis bildete den strukturellen Kern und das moralische Fundament, auf dem sich im 20. Jh. der Sozialstaat entwickelte. Politisch konkretisierte sich der Solidaritätsgedanke im Ausbau der Sozialversicherungen und Sozialhilfemassnahmen, in der steuerlichen Umverteilung des Reichtums, der Intervention des Staates im Schulwesen, im Zugang zur medizinischen Versorgung, in den Altersrenten, der Arbeitslosenversicherung und der Familienunterstützung.

Parallel dazu bildeten sich Hilfsinitiativen heraus, die sich nicht unbedingt auf die öffentliche, institutionalisierte Politik abstützten. Aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden pragmatische soziale Engagements. Dabei handelte es sich häufig um Eltern von Menschen mit Behinderung, welche tätig wurden, um bestehende Probleme unmittelbar zu lösen. Auf diese Weise entstanden zahllose private Stiftungen, Vereine und Institutionen, die soziale Aufgaben übernahmen. In den 1990er Jahren setzte ein Prozess der Individualisierung der Solidarität ein. Es ging nun zunehmend darum, die Menschen in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen – und weniger in ihren Rollen und ihrem Status als Patientinnen und Patienten, Schüler und Schülerinnen oder Familienmitglieder. Dies resultierte in der Einführung personalisierter Betreuungsformen (Case Management) in den Sozialsystemen und in neuen – primär ehrenamtlichen und humanitären – Formen des Engagements.

Die Solidarität im Rahmen der staatlichen Sozialpolitik kann unterschiedliche Formen, Dimensionen und Intensitäten annehmen. 1) Die politische Dimension: Mittels einer demokratischen Entscheidung wird ein bestimmter Interventionsrahmen legitimiert. Darin spiegelt sich das gesamtgesellschaftliche Interesse wider, mit sozialen Sach- oder Geldleistungen auf spezifische Probleme zu reagieren. Beispiele hierfür sind die medizinische Versorgung der Bevölkerung, die ausserfamiliäre Kinderbetreuung, die Sicherung eines Ersatzeinkommens bei Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit bzw. Pensionierung oder eines Ausgleichseinkommens (Familienzulagen). 2) Das Schutzprinzip ist versicherungs- oder aber bedarfsabhängig (Fürsorge) definiert. Das Versicherungsprinzip beruht auf einem Leistungsanrecht, das aus der Mitgliedschaft in einem bestimmten System (z. B. Kranken-, Unfall-, Renten-, Arbeitslosen- oder Invaliditätsversicherung) resultiert. Das Fürsorgeprinzip knüpft die Gewährung und die Höhe von Leistungen an die spezifische Lage der betreffenden Person (finanzielle Mittel, Familiensituation usw.). 3) Die Auswahl der zu schützenden Bevölkerungsgruppen sowie der zu bietenden Leistungsarten und des Leistungsniveaus bestimmt die politischen Inhalte und die Intensität der gewährten Solidarität. Es ist möglich, die Gesamtbevölkerung abzusichern (universales System wie zum Beispiel im Fall der ersten Säule AHV, der Invalidenversicherung sowie der Krankenversicherung) oder nur bestimmte Kategorien (Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Bereich der Arbeitslosenversicherung, der beruflichen Vorsorge oder der Unfallversicherung, Menschen in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen bei der Subventionierung der Krankenkassenbeiträgen). 4) Organisation der Finanzierung: Im Rahmen der Finanzierungsorganisation wird die Art und Weise der Mittelerhebung strukturiert. Die Mittelerhebung kann über die normale Besteuerung, über Sozialabgaben auf Löhne und über Konsumsteuern (MWST, Tabak- und Alkoholsteuer) erfolgen.

Die von System zu System unterschiedliche Geometrie der Solidarität ist das Ergebnis eines politischen Entscheidungsprozesses. Die Entscheidungsträger erkennen die Notwendigkeit der Solidarität an und stecken gleichzeitig deren Grenzen ab. In der Schweiz ist der Solidaritätsgedanke in die liberale Staatsidee eingebettet und untrennbar mit der individuellen Eigenverantwortung verbunden.

Bei der Umsetzung des Solidaritätsgedankens in konkrete politische Massnahmen stellen sich mehrere Herausforderungen. Die Dauerhaftigkeit der sozialen Sicherungssysteme hängt mit der Legitimität der Intervention und mit der langfristigen Sicherung der Finanzierung zusammen. Im Bereich der Governance lassen sich durch eine bessere Koordinierung der Systeme eine optimale Mittelzuweisung und eine kohärentere Organisation der bestehenden Massnahmen erreichen. Durch innovative Betreuungsformen sollte es zudem möglich sein, den steigenden Unterstützungsbedarf im Zusammenhang mit der Alterung der Gesellschaft zu decken (Alters- und Pflegeleistungen). Synergien und Kooperationen mit der Wirtschaft sind erforderlich, um die Bevölkerung vor dem Hintergrund des rapiden technologischen Fortschritts optimal in die Arbeitswelt zu integrieren und daran teilhaben zu lassen. Und nicht zuletzt kommen in den generationsübergreifenden Beziehungen zunehmend die verschiedenen Formen der Solidarität zum Ausdruck, die innerhalb der Familien (mehr oder weniger spontane und anerkannte Care-Arbeit) und im Rahmen der staatlichen Politik (Zuweisung der Mittel der sozialen Sicherung) zum Tragen kommen.

Literaturhinweise

Bonvin, J.-M., Gobet, P., Rossini, S., Tabin, J.-P. (2015). Manuel de politique sociale (2e éd.). Lausanne: Éd. EESP.

Merrien, F.-X., Parchet, R. & Kernen, A. (2005). L’Etat social: une perspective internationale. Paris: A. Colin.

Rossini, S. & Fischer, A. (2015). Les jeunes et la solidarité: enjeux et défis de la mémoire sociale. Saarbrücken: Editions universitaires européennes.

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