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Soziale Arbeit

Peter Sommerfeld


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Soziale Arbeit bearbeitet das für moderne, demokratische, funktional differenzierte und kapitalistische Gesellschaften konstitutive Integrationsproblem, das sich in gesellschaftlich randständigen, psycho-sozial prob­lembeladenen, im Hinblick auf Teilhabe und Ressourcenausstattung unterprivilegierten Lebenslagen und Formen der Lebensführung materialisiert.

Dementsprechend ist sie in ihren diversen Arbeitsfeldern überall dort anzutreffen, wo sich dieses Integrationsproblem in Probleme der Lebensführung von Menschen transformiert, traditionell entlang vor allem der Themen abweichendes Verhalten, Behinderung und Armut, aber auch Migration, bei dem die Integrationsproblematik der Gesellschaft noch einmal eine Steigerung erfährt. Arbeitsfelder sind zum Beispiel: Heimerziehung, Schul­sozialarbeit, offene Kinder- und Jugendarbeit, Erziehungsberatung und Familienhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz, Bewährungshilfe und Strafvollzug, Angebote der Behindertenhilfe, Opferhilfeberatung, Suchthilfe, klinische Sozialarbeit, Sozialhilfe, Flüchtlingshilfe, betriebliche Sozialarbeit, Gemeinwesenarbeit und sozio­kulturelle Animation.

Eine andere, zunächst naheliegende und verbreitete Definition würde lauten, dass die Soziale Arbeit soziale Probleme bearbeitet. Dies tut sie auch, denn die Probleme der Lebensführung im Zusammenhang mit der Integrationsproblematik der Gesellschaft sind überwiegend soziale Probleme. Gleichwohl ist die Definition über soziale Probleme nicht hinreichend, denn nicht alle sozialen Probleme fallen in den Zuständigkeitsbereich der Sozialen Arbeit und nicht alle Probleme der Lebensführung sind soziale Probleme. Psychische Probleme beispielsweise können sowohl Ursache als auch Folge einer individuellen Integrationsproblematik und als solche dann auch Gegenstand sozialarbeiterischer Intervention sein. Und, soziale Probleme gibt es, seit es Menschen gibt. Soziale Arbeit ist aber ein relativ junges Phänomen, das nicht zufällig in dieser Gesellschaftsform entstanden ist.

Es sind diverse gesellschaftliche Entwicklungen (z. B. Aufklärung und Modernisierung, damit einhergehend Enttraditionalisierung und Individualisierung, Umstellung auf kapitalistische Produktionsweise), die in ihrem Zusammenspiel die Struktur der Gesellschaft hin zu ihrer heutigen Form verändert haben und in ihrer Konsequenz das Integrationsproblem hervorbringen. Im Kern besteht dieses Problem darin, dass die Individuen «freigesetzt» werden. Alle Menschen sind frei heisst konkret, dass jedes Individuum nicht mehr einfach eine durch die Geburt gegebene Position hat, sondern seine Position im Lebensverlauf (in der Regel durch Arbeit) erwerben muss. Diese dynamische Form der Vergesellschaftung stellt anspruchsvolle Entwicklungsaufgaben und kann aus unterschiedlichsten Gründen scheitern. Zudem sind die Chancen bzw. die Ressourcen zur Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben von Geburt an ungleich verteilt. Trotz der Freisetzung und damit der prinzipiellen Gleichheit aller Individuen wird im Rahmen einer kapitalistischen Ökonomie systematisch soziale Ungleichheit und Ausschluss erzeugt, die sich in der vertikalen Differenzierung der Gesellschaft strukturell verfestigen, also benachteiligte Teilpopulationen hervorbringen. Das ist an sich kein Problem, wohl aber in einer demokratisch verfassten «bürgerlichen» Zivilgesellschaft. Denn die Verfestigung und das jeweilige Ausmass der Benachteiligung bilden einen grundlegenden Widerspruch zur demokratischen Semantik, die mit den Grundwerten «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» auf den Punkt gebracht werden kann.

Dieser Widerspruch erzeugt die «soziale Frage» respektive die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit muss in einer Demokratie aufgrund der u. a. in den demokratischen Verfassungen verankerten demokratischen Semantik politisch bearbeitet werden. Historisch sind zwei Formen des Politischen für die Entwicklung der Sozialen Arbeit bedeutsam: Zum einen die staatliche Politik und die Entstehung staatlicher «Fürsorge», letztlich des Sozialwesens und des Wohlfahrtstaates. Zum anderen soziale Bewegungen, die den grundlegenden Widerspruch nutzen, um die mit diesem strukturellen Integrationsproblem zusammenhängenden Probleme als soziale Probleme zu thematisieren und sie somit in die politischen Arenen der Öffentlichkeit und der Gesetzgebung zu bringen. Mit dem Fortschreiten dieser politischen Prozesse und im Modus der modernen Gesellschaft, die auf rationale Problemlösung angelegt ist, entsteht die Profession und in deren Gefolge die Wissenschaft der Sozialen Arbeit.

Die Soziale Arbeit bildet sich also in Bezug auf diese demokratische Semantik und hat daher auch nicht zufällig ihren zentralen Wertebezug in den demokratischen Grundwerten. Sie ist das gesellschaftliche Funktionssystem, das für die praktische Bearbeitung der Folgen sozialer Ungleichheit zuständig ist. In einem anderen Zuschnitt, der aber auf dieselben demokratischen Grundwerte abstellt, wird die Soziale Arbeit als «Menschenrechtsprofession» gedacht. Wenn man die Menschenrechte als eine juristisch kodifizierte Form begreift, das faktisch verletzliche Individuum und dessen prinzipiell unverletzbare Würde im Hinblick auf die strukturellen Gegebenheiten der Gesellschaft zu schützen, dann bilden die Menschenrechte für die Soziale Arbeit eine mögliche Referenz für die Entwicklung ihrer professionellen Ziele. Ein anderer, aktueller Ansatz, der von der Sozialen Arbeit derzeit breit aufgegriffen wird, ist der capabilities approach. Auch hier geht es darum, sozialpolitische wie sozialarbeiterische Ansatzpunkte zu entwickeln, mit denen das Abstraktum soziale Gerechtigkeit so gedacht und konzipiert werden kann, dass das Handeln in Politik und Sozialer Arbeit im Hinblick auf die menschliche Entwicklung von Individuen und Gemeinwesen orientiert werden kann.

Mit diesem Wertebezug und dem Bezug zur Sozialpolitik wird deutlich, dass die Soziale Arbeit unmittelbarer als andere Professionen abhängig ist von politischen Entwicklungen. Im Grunde ist die demokratische Semantik normativ leitend für die gesamte demokratische Gesellschaft. Die Auseinandersetzung um die soziale Frage bildet daher eine stetige «Kampfzone» in der Gesellschaft und darin insbesondere im politischen System. Die Soziale Arbeit steht also vor der auf Dauer gestellten Aufgabe, ihre Zuständigkeit und die darauf aufbauende Fachlichkeit zu entwickeln und zur Geltung zu bringen. Sie ist in ihrer professionellen Autonomie zugleich aber stark rückgebunden an die politischen Machtverhältnisse und die dort gegebenen Antworten auf die soziale Frage, nämlich sozialen Ausgleich auf- und soziale Ungleichheit abzubauen oder umgekehrt.

Die Aufgabe, für sozialen Ausgleich zu sorgen, das heisst Mitmenschen und (ausser im Migrationsbereich) Mitbürgern und Mitbürgerinnen bei der Bewältigung von gesellschaftlich mitbedingten Problemen ihrer Lebensführung zu helfen, ist äusserst anspruchsvoll. Wie bei allen anspruchsvollen, Professionalität notwendig machenden Tätigkeiten, ist der Ausbau der fachlichen Basis ein entscheidender Faktor für die bisherige und die weitere Entwicklung der Sozialen Arbeit. Mit der Einführung der Fachhochschulen hat die Wissenschaft der Sozialen Arbeit in der Schweiz einen strukturellen Ort gefunden und mit den dort und an den Lehrstühlen für Sozialarbeit an der Universität Fribourg und für Sozialpädagogik an der Universität Zürich beschäftigten Personen eine «kritische Masse» überschritten, die sie in die Lage versetzt, diese Aufgabe der Weiterentwicklung der fachlichen Basis erfolgversprechend voran zu treiben. In den letzten 15 Jahren hat es einen regelrechten Boom der Wissenschaft der Sozialen Arbeit in der Schweiz im Hinblick auf Forschung und Entwicklung und der daraus entstandenen Publikationen gegeben. Die Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Soziale Arbeit sowie der Schweizerischen Zeitschrift für Soziale Arbeit sind zwei Bausteine in diesem rasanten Entwicklungsprozess, der u. a. auch zur Aufnahme in die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften geführt hat.

Für die Sicherstellung einer fachlich hochstehenden Sozialen Arbeit in der Schweiz, und damit für die Sicherstellung eines problemlösungsorientierten sozialen Ausgleichs, wird es entscheidend sein, inwieweit diese Wissensentwicklung weitergeführt und mit den Entwicklungen der Praxis der Sozialen Arbeit verschränkt werden kann, so dass angemessene und wirkungsvolle Hilfen für immer komplexere Problemlagen im Hinblick auf die gesellschaftliche Integration gewährleistet werden können. Dies wiederum ist eingebettet in transnationale, letztlich globale Entwicklungen, die daher ebenfalls einen Bezugspunkt der heutigen Sozialen Arbeit darstellen.

Literaturhinweise

Nussbaum, M. (2011). Creating capabilities: the human development approach. Cambridge: Belknap.

Sommerfeld, P., Hollenstein, L. & Calzaferri, R. (2011). Integration und Lebensführung: Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: VS.

Staub-Bernasconi, S. (2018). Soziale Arbeit und Menschenrechte: Vom beruflichen Doppelmandat zum professionellen Tripelmandat. Leverkusen: Barbara Budrich.

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